Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

Drang eintritt, der Freund und Feind nicht unter-
scheiden kann.

Das Vorstellungsvermögen kann auf ver-
schiedene Art, ursprünglich oder secundair mit-
leiden. Dem Blödsinn, der Narrheit und dem
fixen Wahn kann sich Tobsucht zugesellen, wo
dann der concrete Krankheitsfall aus einem Ge-
mische dieser und jener Krankheiten besteht.
Daher sind die rasenden Handlungen ursprünglich
melancholischer Menschen bald Produkte ihrer
fixen Ideen, bald Symptome einer mitvorhandnen
Tobsucht. Allein das Vorstellungsvermögen ist
ausserdem noch bey der Raserey, sofern in der-
selben das ganze Nervensystem leidet, mit afficirt.
Doch steht in beiden Fällen sein Zustand für sich,
und ist nicht Ursache der Wuth. Es leidet in
transitorischen Paroxismen, die mit denen der
Tobsucht gleichzeitig sind. Unmittelbar zur Zeit,
wo die Tobsucht in seinen heftigsten Anfällen ob-
waltet, scheint das Vorstellungsvermögen entweder
an einer schnellen Flucht der Ideen oder an
einer Catalepsie zu leiden, durch welche die
Freiheit des Willens beschränkt und gleichsam
ausser Verbindung mit den Vorstellungen gesetzt ist.
In dem letzten Zustand befindet sich der Rasende,
der an der sogenannten stillen Wuth leidet, oder
rastloss seine Ketten schüttelt. In dem ersten Fall
braust ein loderndes Feuer in der Phantasie, isolirte
und lossgebundene Vorstellungen drängen sich zu
und fliehn pfeilschnell vorüber, dass die Aufmerk-

A a 2

Drang eintritt, der Freund und Feind nicht unter-
ſcheiden kann.

Das Vorſtellungsvermögen kann auf ver-
ſchiedene Art, urſprünglich oder ſecundair mit-
leiden. Dem Blödſinn, der Narrheit und dem
fixen Wahn kann ſich Tobſucht zugeſellen, wo
dann der concrete Krankheitsfall aus einem Ge-
miſche dieſer und jener Krankheiten beſteht.
Daher ſind die raſenden Handlungen urſprünglich
melancholiſcher Menſchen bald Produkte ihrer
fixen Ideen, bald Symptome einer mitvorhandnen
Tobſucht. Allein das Vorſtellungsvermögen iſt
auſserdem noch bey der Raſerey, ſofern in der-
ſelben das ganze Nervenſyſtem leidet, mit afficirt.
Doch ſteht in beiden Fällen ſein Zuſtand für ſich,
und iſt nicht Urſache der Wuth. Es leidet in
tranſitoriſchen Paroxiſmen, die mit denen der
Tobſucht gleichzeitig ſind. Unmittelbar zur Zeit,
wo die Tobſucht in ſeinen heftigſten Anfällen ob-
waltet, ſcheint das Vorſtellungsvermögen entweder
an einer ſchnellen Flucht der Ideen oder an
einer Catalepſie zu leiden, durch welche die
Freiheit des Willens beſchränkt und gleichſam
auſser Verbindung mit den Vorſtellungen geſetzt iſt.
In dem letzten Zuſtand befindet ſich der Raſende,
der an der ſogenannten ſtillen Wuth leidet, oder
raſtloſs ſeine Ketten ſchüttelt. In dem erſten Fall
brauſt ein loderndes Feuer in der Phantaſie, iſolirte
und loſsgebundene Vorſtellungen drängen ſich zu
und fliehn pfeilſchnell vorüber, daſs die Aufmerk-

A a 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0376" n="371"/>
Drang eintritt, der Freund und Feind nicht unter-<lb/>
&#x017F;cheiden kann.</p><lb/>
            <p>Das Vor&#x017F;tellungsvermögen kann auf ver-<lb/>
&#x017F;chiedene Art, ur&#x017F;prünglich oder &#x017F;ecundair mit-<lb/>
leiden. Dem Blöd&#x017F;inn, der Narrheit und dem<lb/>
fixen Wahn kann &#x017F;ich Tob&#x017F;ucht zuge&#x017F;ellen, wo<lb/>
dann der concrete Krankheitsfall aus einem Ge-<lb/>
mi&#x017F;che die&#x017F;er und jener Krankheiten be&#x017F;teht.<lb/>
Daher &#x017F;ind die ra&#x017F;enden Handlungen ur&#x017F;prünglich<lb/>
melancholi&#x017F;cher Men&#x017F;chen bald Produkte ihrer<lb/>
fixen Ideen, bald Symptome einer mitvorhandnen<lb/>
Tob&#x017F;ucht. Allein das Vor&#x017F;tellungsvermögen i&#x017F;t<lb/>
au&#x017F;serdem noch bey der Ra&#x017F;erey, &#x017F;ofern in der-<lb/>
&#x017F;elben das ganze Nerven&#x017F;y&#x017F;tem leidet, mit afficirt.<lb/>
Doch &#x017F;teht in beiden Fällen &#x017F;ein Zu&#x017F;tand für &#x017F;ich,<lb/>
und i&#x017F;t nicht Ur&#x017F;ache der Wuth. Es leidet in<lb/>
tran&#x017F;itori&#x017F;chen Paroxi&#x017F;men, die mit denen der<lb/>
Tob&#x017F;ucht gleichzeitig &#x017F;ind. Unmittelbar zur Zeit,<lb/>
wo die Tob&#x017F;ucht in &#x017F;einen heftig&#x017F;ten Anfällen ob-<lb/>
waltet, &#x017F;cheint das Vor&#x017F;tellungsvermögen entweder<lb/>
an einer <hi rendition="#g">&#x017F;chnellen Flucht</hi> der Ideen oder an<lb/>
einer <hi rendition="#g">Catalep&#x017F;ie</hi> zu leiden, durch welche die<lb/>
Freiheit des Willens be&#x017F;chränkt und gleich&#x017F;am<lb/>
au&#x017F;ser Verbindung mit den Vor&#x017F;tellungen ge&#x017F;etzt i&#x017F;t.<lb/>
In dem letzten Zu&#x017F;tand befindet &#x017F;ich der Ra&#x017F;ende,<lb/>
der an der &#x017F;ogenannten &#x017F;tillen Wuth leidet, oder<lb/>
ra&#x017F;tlo&#x017F;s &#x017F;eine Ketten &#x017F;chüttelt. In dem er&#x017F;ten Fall<lb/>
brau&#x017F;t ein loderndes Feuer in der Phanta&#x017F;ie, i&#x017F;olirte<lb/>
und lo&#x017F;sgebundene Vor&#x017F;tellungen drängen &#x017F;ich zu<lb/>
und fliehn pfeil&#x017F;chnell vorüber, da&#x017F;s die Aufmerk-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">A a 2</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[371/0376] Drang eintritt, der Freund und Feind nicht unter- ſcheiden kann. Das Vorſtellungsvermögen kann auf ver- ſchiedene Art, urſprünglich oder ſecundair mit- leiden. Dem Blödſinn, der Narrheit und dem fixen Wahn kann ſich Tobſucht zugeſellen, wo dann der concrete Krankheitsfall aus einem Ge- miſche dieſer und jener Krankheiten beſteht. Daher ſind die raſenden Handlungen urſprünglich melancholiſcher Menſchen bald Produkte ihrer fixen Ideen, bald Symptome einer mitvorhandnen Tobſucht. Allein das Vorſtellungsvermögen iſt auſserdem noch bey der Raſerey, ſofern in der- ſelben das ganze Nervenſyſtem leidet, mit afficirt. Doch ſteht in beiden Fällen ſein Zuſtand für ſich, und iſt nicht Urſache der Wuth. Es leidet in tranſitoriſchen Paroxiſmen, die mit denen der Tobſucht gleichzeitig ſind. Unmittelbar zur Zeit, wo die Tobſucht in ſeinen heftigſten Anfällen ob- waltet, ſcheint das Vorſtellungsvermögen entweder an einer ſchnellen Flucht der Ideen oder an einer Catalepſie zu leiden, durch welche die Freiheit des Willens beſchränkt und gleichſam auſser Verbindung mit den Vorſtellungen geſetzt iſt. In dem letzten Zuſtand befindet ſich der Raſende, der an der ſogenannten ſtillen Wuth leidet, oder raſtloſs ſeine Ketten ſchüttelt. In dem erſten Fall brauſt ein loderndes Feuer in der Phantaſie, iſolirte und loſsgebundene Vorſtellungen drängen ſich zu und fliehn pfeilſchnell vorüber, daſs die Aufmerk- A a 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/376
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 371. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/376>, abgerufen am 27.11.2024.