Der rastlose Wahnsinn steht zwar dem vorigen entgegen, doch wechseln beide gern mit einander. Dem Kranken ist es nirgends wohl, er flieht, und weiss nicht warum und wohin. Er flieht die Menschen, sucht einsame, meistens trau- rige Oerter, schwärmt des Nachts unter den Grä- bern herum, ohne sich eines bestimmten Zwecks bewusst zu seyn. Die Grade der Krankheit sind verschieden. Einige Hypochondristen haben eine innere Angst, die sie nirgends zur Ruhe kommen lässt. Der bekannte Grotthouss gehörte zu diesen Patienten. Wagner*) beschreibt einen ähnlichen Sonderling, der immer von einem Ort zum andern herumirrt. So lange man ihn als Gast behandelt, spricht er ganz vernünftig; sobald er aber ermahnt wird, an einem Ort länger zu verweilen, so wird er fast rasend, und verflucht seine Feinde, die ihn an seinem Glücke hindern wollen. Auf seinen Reisen sucht er überall Be- förderung; kaum hat er aber irgend ein Aemt- chen erhalten, so denkt er schon an eine Verän- derung, sucht sich von der Stelle, welche er be- kleidet, loszumachen, und geht weiter. Ein Aufenthalt von drey Tagen ist für ihn eine Ewig- keit. Fragt man ihn, wo er hinreise, so giebt er zur Antwort, er suche eine Condition. Er klagt nie über Mattigkeit von den vielen Reisen. Zu- weilen findet sich ein Anfall dieser Krankheit zu Anfang der Pubertät ein, der sich aber meistens
*) Beitr. 1 B. 267 S.
Der raſtloſe Wahnſinn ſteht zwar dem vorigen entgegen, doch wechſeln beide gern mit einander. Dem Kranken iſt es nirgends wohl, er flieht, und weiſs nicht warum und wohin. Er flieht die Menſchen, ſucht einſame, meiſtens trau- rige Oerter, ſchwärmt des Nachts unter den Grä- bern herum, ohne ſich eines beſtimmten Zwecks bewuſst zu ſeyn. Die Grade der Krankheit ſind verſchieden. Einige Hypochondriſten haben eine innere Angſt, die ſie nirgends zur Ruhe kommen läſst. Der bekannte Grotthouſs gehörte zu dieſen Patienten. Wagner*) beſchreibt einen ähnlichen Sonderling, der immer von einem Ort zum andern herumirrt. So lange man ihn als Gaſt behandelt, ſpricht er ganz vernünftig; ſobald er aber ermahnt wird, an einem Ort länger zu verweilen, ſo wird er faſt raſend, und verflucht ſeine Feinde, die ihn an ſeinem Glücke hindern wollen. Auf ſeinen Reiſen ſucht er überall Be- förderung; kaum hat er aber irgend ein Aemt- chen erhalten, ſo denkt er ſchon an eine Verän- derung, ſucht ſich von der Stelle, welche er be- kleidet, loszumachen, und geht weiter. Ein Aufenthalt von drey Tagen iſt für ihn eine Ewig- keit. Fragt man ihn, wo er hinreiſe, ſo giebt er zur Antwort, er ſuche eine Condition. Er klagt nie über Mattigkeit von den vielen Reiſen. Zu- weilen findet ſich ein Anfall dieſer Krankheit zu Anfang der Pubertät ein, der ſich aber meiſtens
*) Beitr. 1 B. 267 S.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0368"n="363"/><p>Der <hirendition="#g">raſtloſe</hi> Wahnſinn ſteht zwar dem<lb/>
vorigen entgegen, doch wechſeln beide gern mit<lb/>
einander. Dem Kranken iſt es nirgends wohl,<lb/>
er flieht, und weiſs nicht warum und wohin. Er<lb/>
flieht die Menſchen, ſucht einſame, meiſtens trau-<lb/>
rige Oerter, ſchwärmt des Nachts unter den Grä-<lb/>
bern herum, ohne ſich eines beſtimmten Zwecks<lb/>
bewuſst zu ſeyn. Die Grade der Krankheit ſind<lb/>
verſchieden. Einige Hypochondriſten haben eine<lb/>
innere Angſt, die ſie nirgends zur Ruhe kommen<lb/>
läſst. Der bekannte <hirendition="#g">Grotthouſs</hi> gehörte zu<lb/>
dieſen Patienten. <hirendition="#g">Wagner</hi><noteplace="foot"n="*)">Beitr. 1 B. 267 S.</note> beſchreibt einen<lb/>
ähnlichen Sonderling, der immer von einem Ort<lb/>
zum andern herumirrt. So lange man ihn als<lb/>
Gaſt behandelt, ſpricht er ganz vernünftig; ſobald<lb/>
er aber ermahnt wird, an einem Ort länger zu<lb/>
verweilen, ſo wird er faſt raſend, und verflucht<lb/>ſeine Feinde, die ihn an ſeinem Glücke hindern<lb/>
wollen. Auf ſeinen Reiſen ſucht er überall Be-<lb/>
förderung; kaum hat er aber irgend ein Aemt-<lb/>
chen erhalten, ſo denkt er ſchon an eine Verän-<lb/>
derung, ſucht ſich von der Stelle, welche er be-<lb/>
kleidet, loszumachen, und geht weiter. Ein<lb/>
Aufenthalt von drey Tagen iſt für ihn eine Ewig-<lb/>
keit. Fragt man ihn, wo er hinreiſe, ſo giebt er<lb/>
zur Antwort, er ſuche eine Condition. Er klagt<lb/>
nie über Mattigkeit von den vielen Reiſen. Zu-<lb/>
weilen findet ſich ein Anfall dieſer Krankheit zu<lb/>
Anfang der Pubertät ein, der ſich aber meiſtens<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[363/0368]
Der raſtloſe Wahnſinn ſteht zwar dem
vorigen entgegen, doch wechſeln beide gern mit
einander. Dem Kranken iſt es nirgends wohl,
er flieht, und weiſs nicht warum und wohin. Er
flieht die Menſchen, ſucht einſame, meiſtens trau-
rige Oerter, ſchwärmt des Nachts unter den Grä-
bern herum, ohne ſich eines beſtimmten Zwecks
bewuſst zu ſeyn. Die Grade der Krankheit ſind
verſchieden. Einige Hypochondriſten haben eine
innere Angſt, die ſie nirgends zur Ruhe kommen
läſst. Der bekannte Grotthouſs gehörte zu
dieſen Patienten. Wagner *) beſchreibt einen
ähnlichen Sonderling, der immer von einem Ort
zum andern herumirrt. So lange man ihn als
Gaſt behandelt, ſpricht er ganz vernünftig; ſobald
er aber ermahnt wird, an einem Ort länger zu
verweilen, ſo wird er faſt raſend, und verflucht
ſeine Feinde, die ihn an ſeinem Glücke hindern
wollen. Auf ſeinen Reiſen ſucht er überall Be-
förderung; kaum hat er aber irgend ein Aemt-
chen erhalten, ſo denkt er ſchon an eine Verän-
derung, ſucht ſich von der Stelle, welche er be-
kleidet, loszumachen, und geht weiter. Ein
Aufenthalt von drey Tagen iſt für ihn eine Ewig-
keit. Fragt man ihn, wo er hinreiſe, ſo giebt er
zur Antwort, er ſuche eine Condition. Er klagt
nie über Mattigkeit von den vielen Reiſen. Zu-
weilen findet ſich ein Anfall dieſer Krankheit zu
Anfang der Pubertät ein, der ſich aber meiſtens
*) Beitr. 1 B. 267 S.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/368>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.