der Verzweifelung zurückzuhalten, oder dem Kranken einen andern Gegenstand aufzustellen, der sich allmählich seiner bemeistert. Doch ist die Hoffnung gering, wenn der Kranke auch für den Gegenstand kein Interesse mehr hat, der ihn krank machte, sondern bloss der Lebensüber- druss ihm übrig geblieben ist. Zuletzt erwähne ich noch der Mordsucht in der Raserey, die durch einen innern Drang ohne Dazwischenkunft fixer Vorstellungen zu Stande kommt. Die Kran- ken stürzen sich ins Wasser, hängen sich auf, springen zum Fenster hinaus. Bartholin*) erzählt die Geschichte eines Menschen, der am Fleckfieber litt, und sich am Bette aufhing, als seine Wärterin sich auf einige Augenblicke ent- fernt hatte.
h) Dem Lebensüberdruss steht die fixe Idee der Todesfurcht entgegen. Sie unterschei- det sich von der Besorgniss der Hypochondristen für ihre Erhaltung dadurch, dass die Kranken meistens gesund sind, wohl aussehen, und es bloss fürchten, dass sie sterben werden. Hin- gegen ist der Hypochondrist durchgehends wirk- lich krank, nur vergrössert er seine Krankheit und fürchtet zu viel von ihr. Einige dieser Kran- ken führen immerhin ihre Todesfurcht im Mun- de, und gerathen über jede unbedeutende Em- pfindung in Angst, weinen oft, wenn sie allein
*)Arnold l. c. Th. 1. 111.
der Verzweifelung zurückzuhalten, oder dem Kranken einen andern Gegenſtand aufzuſtellen, der ſich allmählich ſeiner bemeiſtert. Doch iſt die Hoffnung gering, wenn der Kranke auch für den Gegenſtand kein Intereſſe mehr hat, der ihn krank machte, ſondern bloſs der Lebensüber- druſs ihm übrig geblieben iſt. Zuletzt erwähne ich noch der Mordſucht in der Raſerey, die durch einen innern Drang ohne Dazwiſchenkunft fixer Vorſtellungen zu Stande kommt. Die Kran- ken ſtürzen ſich ins Waſſer, hängen ſich auf, ſpringen zum Fenſter hinaus. Bartholin*) erzählt die Geſchichte eines Menſchen, der am Fleckfieber litt, und ſich am Bette aufhing, als ſeine Wärterin ſich auf einige Augenblicke ent- fernt hatte.
h) Dem Lebensüberdruſs ſteht die fixe Idee der Todesfurcht entgegen. Sie unterſchei- det ſich von der Beſorgniſs der Hypochondriſten für ihre Erhaltung dadurch, daſs die Kranken meiſtens geſund ſind, wohl ausſehen, und es bloſs fürchten, daſs ſie ſterben werden. Hin- gegen iſt der Hypochondriſt durchgehends wirk- lich krank, nur vergröſsert er ſeine Krankheit und fürchtet zu viel von ihr. Einige dieſer Kran- ken führen immerhin ihre Todesfurcht im Mun- de, und gerathen über jede unbedeutende Em- pfindung in Angſt, weinen oft, wenn ſie allein
*)Arnold l. c. Th. 1. 111.
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der Verzweifelung zurückzuhalten, oder dem
Kranken einen andern Gegenſtand aufzuſtellen,
der ſich allmählich ſeiner bemeiſtert. Doch iſt die
Hoffnung gering, wenn der Kranke auch für den
Gegenſtand kein Intereſſe mehr hat, der ihn
krank machte, ſondern bloſs der Lebensüber-
druſs ihm übrig geblieben iſt. Zuletzt erwähne
ich noch der Mordſucht in der Raſerey, die
durch einen innern Drang ohne Dazwiſchenkunft
fixer Vorſtellungen zu Stande kommt. Die Kran-
ken ſtürzen ſich ins Waſſer, hängen ſich auf,
ſpringen zum Fenſter hinaus. Bartholin *)
erzählt die Geſchichte eines Menſchen, der am
Fleckfieber litt, und ſich am Bette aufhing, als
ſeine Wärterin ſich auf einige Augenblicke ent-
fernt hatte.
h) Dem Lebensüberdruſs ſteht die fixe Idee
der Todesfurcht entgegen. Sie unterſchei-
det ſich von der Beſorgniſs der Hypochondriſten
für ihre Erhaltung dadurch, daſs die Kranken
meiſtens geſund ſind, wohl ausſehen, und es
bloſs fürchten, daſs ſie ſterben werden. Hin-
gegen iſt der Hypochondriſt durchgehends wirk-
lich krank, nur vergröſsert er ſeine Krankheit
und fürchtet zu viel von ihr. Einige dieſer Kran-
ken führen immerhin ihre Todesfurcht im Mun-
de, und gerathen über jede unbedeutende Em-
pfindung in Angſt, weinen oft, wenn ſie allein
*) Arnold l. c. Th. 1. 111.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/361>, abgerufen am 23.11.2024.
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