schaft, die von Natur misstrauisch, verschlossen und zu Grübeleien geneigt sind, voller Vorur- theile stecken, an Verstandes-Schwäche leiden und daher den wahren Werth der Dinge zu schä- tzen nicht im Stande sind. Sie glauben leicht an Chimären, die mit der Erfüllung ihrer Wün- sche in Verbindung stehn. Treffen vollends noch mit diesen inneren Zuständen äussere Verhält- nisse z. B. Aufenhalt an öden Orten, Einsamkeit, einförmige Arbeit, Klosterleben u. s. w. zusam- men, die die Phantasie wenig beschäfftigen, so entsteht der fixe Wahn um desto leichter. Dann hat der Mensch einen natürlichen Hang, sich in einem geträumten Zustand zu denken und in Be- ziehung auf denselben das Bewusstseyn seiner wahren Verhältnisse zu verleugnen. Das Kind spielt die Wochenfrau, den Soldaten oder König; wir ergötzen uns an den Fiktionen der Mahler, Dichter und Schauspieler, ja es macht uns selbst in den späteren Jahren des Lebens noch glück- lich, uns eine Welt in der Phantasie zu schaffen, in welcher wir eine glänzendere Rolle als in der wirklichen spielen. Allein unsere Besonnenheit weist uns bald in unsere natürlichen Verhältnisse zurück. Wenn hingegen dieselbe durch Schwä- che des Verstandes, durch eine hervorstechende Stärke der Phantasie, durch eine geschäfftslose Einsamkeit, einseitige Anstrengungen der Seele u. s. w. geschwächt wird; so kann dieser Hang zur Träumerey ein Keim des Wahnsinns werden
ſchaft, die von Natur miſstrauiſch, verſchloſſen und zu Grübeleien geneigt ſind, voller Vorur- theile ſtecken, an Verſtandes-Schwäche leiden und daher den wahren Werth der Dinge zu ſchä- tzen nicht im Stande ſind. Sie glauben leicht an Chimären, die mit der Erfüllung ihrer Wün- ſche in Verbindung ſtehn. Treffen vollends noch mit dieſen inneren Zuſtänden äuſsere Verhält- niſſe z. B. Aufenhalt an öden Orten, Einſamkeit, einförmige Arbeit, Kloſterleben u. ſ. w. zuſam- men, die die Phantaſie wenig beſchäfftigen, ſo entſteht der fixe Wahn um deſto leichter. Dann hat der Menſch einen natürlichen Hang, ſich in einem geträumten Zuſtand zu denken und in Be- ziehung auf denſelben das Bewuſstſeyn ſeiner wahren Verhältniſſe zu verleugnen. Das Kind ſpielt die Wochenfrau, den Soldaten oder König; wir ergötzen uns an den Fiktionen der Mahler, Dichter und Schauſpieler, ja es macht uns ſelbſt in den ſpäteren Jahren des Lebens noch glück- lich, uns eine Welt in der Phantaſie zu ſchaffen, in welcher wir eine glänzendere Rolle als in der wirklichen ſpielen. Allein unſere Beſonnenheit weiſt uns bald in unſere natürlichen Verhältniſſe zurück. Wenn hingegen dieſelbe durch Schwä- che des Verſtandes, durch eine hervorſtechende Stärke der Phantaſie, durch eine geſchäfftsloſe Einſamkeit, einſeitige Anſtrengungen der Seele u. ſ. w. geſchwächt wird; ſo kann dieſer Hang zur Träumerey ein Keim des Wahnſinns werden
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0327"n="322"/>ſchaft, die von Natur miſstrauiſch, verſchloſſen<lb/>
und zu Grübeleien geneigt ſind, voller Vorur-<lb/>
theile ſtecken, an Verſtandes-Schwäche leiden<lb/>
und daher den wahren Werth der Dinge zu ſchä-<lb/>
tzen nicht im Stande ſind. Sie glauben leicht<lb/>
an Chimären, die mit der Erfüllung ihrer Wün-<lb/>ſche in Verbindung ſtehn. Treffen vollends noch<lb/>
mit dieſen inneren Zuſtänden äuſsere Verhält-<lb/>
niſſe z. B. Aufenhalt an öden Orten, Einſamkeit,<lb/>
einförmige Arbeit, Kloſterleben u. ſ. w. zuſam-<lb/>
men, die die Phantaſie wenig beſchäfftigen, ſo<lb/>
entſteht der fixe Wahn um deſto leichter. Dann<lb/>
hat der Menſch einen natürlichen Hang, ſich in<lb/>
einem geträumten Zuſtand zu denken und in Be-<lb/>
ziehung auf denſelben das Bewuſstſeyn ſeiner<lb/>
wahren Verhältniſſe zu verleugnen. Das Kind<lb/>ſpielt die Wochenfrau, den Soldaten oder König;<lb/>
wir ergötzen uns an den Fiktionen der Mahler,<lb/>
Dichter und Schauſpieler, ja es macht uns ſelbſt<lb/>
in den ſpäteren Jahren des Lebens noch glück-<lb/>
lich, uns eine Welt in der Phantaſie zu ſchaffen,<lb/>
in welcher wir eine glänzendere Rolle als in der<lb/>
wirklichen ſpielen. Allein unſere Beſonnenheit<lb/>
weiſt uns bald in unſere natürlichen Verhältniſſe<lb/>
zurück. Wenn hingegen dieſelbe durch Schwä-<lb/>
che des Verſtandes, durch eine hervorſtechende<lb/>
Stärke der Phantaſie, durch eine geſchäfftsloſe<lb/>
Einſamkeit, einſeitige Anſtrengungen der Seele<lb/>
u. ſ. w. geſchwächt wird; ſo kann dieſer Hang<lb/>
zur Träumerey ein Keim des Wahnſinns werden<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[322/0327]
ſchaft, die von Natur miſstrauiſch, verſchloſſen
und zu Grübeleien geneigt ſind, voller Vorur-
theile ſtecken, an Verſtandes-Schwäche leiden
und daher den wahren Werth der Dinge zu ſchä-
tzen nicht im Stande ſind. Sie glauben leicht
an Chimären, die mit der Erfüllung ihrer Wün-
ſche in Verbindung ſtehn. Treffen vollends noch
mit dieſen inneren Zuſtänden äuſsere Verhält-
niſſe z. B. Aufenhalt an öden Orten, Einſamkeit,
einförmige Arbeit, Kloſterleben u. ſ. w. zuſam-
men, die die Phantaſie wenig beſchäfftigen, ſo
entſteht der fixe Wahn um deſto leichter. Dann
hat der Menſch einen natürlichen Hang, ſich in
einem geträumten Zuſtand zu denken und in Be-
ziehung auf denſelben das Bewuſstſeyn ſeiner
wahren Verhältniſſe zu verleugnen. Das Kind
ſpielt die Wochenfrau, den Soldaten oder König;
wir ergötzen uns an den Fiktionen der Mahler,
Dichter und Schauſpieler, ja es macht uns ſelbſt
in den ſpäteren Jahren des Lebens noch glück-
lich, uns eine Welt in der Phantaſie zu ſchaffen,
in welcher wir eine glänzendere Rolle als in der
wirklichen ſpielen. Allein unſere Beſonnenheit
weiſt uns bald in unſere natürlichen Verhältniſſe
zurück. Wenn hingegen dieſelbe durch Schwä-
che des Verſtandes, durch eine hervorſtechende
Stärke der Phantaſie, durch eine geſchäfftsloſe
Einſamkeit, einſeitige Anſtrengungen der Seele
u. ſ. w. geſchwächt wird; ſo kann dieſer Hang
zur Träumerey ein Keim des Wahnſinns werden
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/327>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.