Das Heimweh ist eine wahre Gemüths- krankheit, die gerade bey solchen Völkern am leichtesten entsteht, die in der Einfalt ihrer Sit- ten den Begriff ihrer Glückseligkeit an wenige Gegenstände knüpfen, wie die Lappen, die Berg- schotten und Schweizer. Die katholischen Appen- zeller sind blosse Hirten, kleben aber am stärk- sten wie ihre Kühe an die vaterländschen Alpen; die Lappen haben eine so hohe Meinung von den Vorzügen und der Verfassung ihres Landes, dass sie ausser demselben erkranken. Die süsse Rück- erinnerung an Freunde und Verwandte, an die schuldlosen Scenen der Jugend, an unbedeutende Eigenheiten des Vaterlandes, an den Kuhreihen der Schweizer, den Dudelsack der Schotten, fi- xirt die Einbildungskraft, erregt Sehnsucht, diese Schwermuth, wenn sie nicht befriediget wird. Gern bringt auch das Heimweh die oben schon bemerkte schnelle Flucht aller Nerven- und Ve- getationskraft, und eine nervöse Schwindsucht hervor, die aber eben so schnell durch die Hoff- nung der Rückkehr wieder verschwindet. Ein- samkeit vermehrt die Wirkungen des Heimwehs; frühe Beschäfftigungen beugen ihnen vor. Ist dasselbe einmal vollkommen ausgebildet; so ist Rückkehr ins Vaterland das sicherste, oft das einzige Mittel zur Genesung *). Moreau**)
*)Blumenbach med. Bibl. 1. B. 4. St. 732 S. Mem. de la Soc. med. d'emulat. T. II. 192 S.
**) Mem. de la Soc. med. d'emul. T. II. 192 S.
Das Heimweh iſt eine wahre Gemüths- krankheit, die gerade bey ſolchen Völkern am leichteſten entſteht, die in der Einfalt ihrer Sit- ten den Begriff ihrer Glückſeligkeit an wenige Gegenſtände knüpfen, wie die Lappen, die Berg- ſchotten und Schweizer. Die katholiſchen Appen- zeller ſind bloſse Hirten, kleben aber am ſtärk- ſten wie ihre Kühe an die vaterländſchen Alpen; die Lappen haben eine ſo hohe Meinung von den Vorzügen und der Verfaſſung ihres Landes, daſs ſie auſser demſelben erkranken. Die ſüſse Rück- erinnerung an Freunde und Verwandte, an die ſchuldloſen Scenen der Jugend, an unbedeutende Eigenheiten des Vaterlandes, an den Kuhreihen der Schweizer, den Dudelſack der Schotten, fi- xirt die Einbildungskraft, erregt Sehnſucht, dieſe Schwermuth, wenn ſie nicht befriediget wird. Gern bringt auch das Heimweh die oben ſchon bemerkte ſchnelle Flucht aller Nerven- und Ve- getationskraft, und eine nervöſe Schwindſucht hervor, die aber eben ſo ſchnell durch die Hoff- nung der Rückkehr wieder verſchwindet. Ein- ſamkeit vermehrt die Wirkungen des Heimwehs; frühe Beſchäfftigungen beugen ihnen vor. Iſt daſſelbe einmal vollkommen ausgebildet; ſo iſt Rückkehr ins Vaterland das ſicherſte, oft das einzige Mittel zur Geneſung *). Moreau**)
*)Blumenbach med. Bibl. 1. B. 4. St. 732 S. Mém. de la Soc. med. d’émulat. T. II. 192 S.
**) Mém. de la Soc. méd. d’émul. T. II. 192 S.
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Das Heimweh iſt eine wahre Gemüths-
krankheit, die gerade bey ſolchen Völkern am
leichteſten entſteht, die in der Einfalt ihrer Sit-
ten den Begriff ihrer Glückſeligkeit an wenige
Gegenſtände knüpfen, wie die Lappen, die Berg-
ſchotten und Schweizer. Die katholiſchen Appen-
zeller ſind bloſse Hirten, kleben aber am ſtärk-
ſten wie ihre Kühe an die vaterländſchen Alpen;
die Lappen haben eine ſo hohe Meinung von den
Vorzügen und der Verfaſſung ihres Landes, daſs
ſie auſser demſelben erkranken. Die ſüſse Rück-
erinnerung an Freunde und Verwandte, an die
ſchuldloſen Scenen der Jugend, an unbedeutende
Eigenheiten des Vaterlandes, an den Kuhreihen
der Schweizer, den Dudelſack der Schotten, fi-
xirt die Einbildungskraft, erregt Sehnſucht, dieſe
Schwermuth, wenn ſie nicht befriediget wird.
Gern bringt auch das Heimweh die oben ſchon
bemerkte ſchnelle Flucht aller Nerven- und Ve-
getationskraft, und eine nervöſe Schwindſucht
hervor, die aber eben ſo ſchnell durch die Hoff-
nung der Rückkehr wieder verſchwindet. Ein-
ſamkeit vermehrt die Wirkungen des Heimwehs;
frühe Beſchäfftigungen beugen ihnen vor. Iſt
daſſelbe einmal vollkommen ausgebildet; ſo iſt
Rückkehr ins Vaterland das ſicherſte, oft das
einzige Mittel zur Geneſung *). Moreau **)
*) Blumenbach med. Bibl. 1. B. 4. St. 732 S.
Mém. de la Soc. med. d’émulat. T. II. 192 S.
**) Mém. de la Soc. méd. d’émul. T. II. 192 S.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/297>, abgerufen am 23.11.2024.
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