Umgekehrt dient es oft zu ihrer Beruhigung, ihnen die offene Wahrheit zu sagen. Der Profes- sor Moritz war krank und so voller Angst über die Ungewissheit seiner Herstellung, dass dies sein Fieber ununterbrochen unterhielt. Alle Hoffnungen, die ihm sein Arzt Herz machte, fruchteten nichts. Nun erklärte derselbe ihm mit feierlicher Mine, dass er von seiner Krankheit nicht genesen würde. Dies wirkte. Nachdem der erste Schreck vorüber war, wurde er ruhig und genas. Man unterrichte sie in dem Gang der organischen Natur, die aus Spannen langer Existenz der Individuen ihre Kette flicht, und nichts giebt, was sie nicht auch wieder zerstört. Man schildre die Thorheit, über Besorgnisse für die Zukunft den Genuss der Gegenwart zu ver- lieren. Man gewöhne sie allmählich, wirkliche Uebel mit Ruhe anzuschaun, sie als fremde Dinge bey Seite zu setzen und darüber zur Ordnung des Tages fortzuschreiten *). Hypochondristen ha- ben ein reizbares Gemeingefühl. Sie empfinden in allen Punkten, wohin sie die Aufmerksamkeit ihrer Seele richten. Sie bilden sich daher ein, alle Krankheiten zu haben, von welchen sie hö- ren. Besonders quält sie der Gedanke verlarvter venerischer Krankheiten, wenn sie sich nicht
*)Kant von der Macht des Gemüths, durch den blossen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Mei- ster zu seyn. Königsberg 1798. und in dem Streit der Facultäten.
Umgekehrt dient es oft zu ihrer Beruhigung, ihnen die offene Wahrheit zu ſagen. Der Profeſ- ſor Moritz war krank und ſo voller Angſt über die Ungewiſsheit ſeiner Herſtellung, daſs dies ſein Fieber ununterbrochen unterhielt. Alle Hoffnungen, die ihm ſein Arzt Herz machte, fruchteten nichts. Nun erklärte derſelbe ihm mit feierlicher Mine, daſs er von ſeiner Krankheit nicht geneſen würde. Dies wirkte. Nachdem der erſte Schreck vorüber war, wurde er ruhig und genas. Man unterrichte ſie in dem Gang der organiſchen Natur, die aus Spannen langer Exiſtenz der Individuen ihre Kette flicht, und nichts giebt, was ſie nicht auch wieder zerſtört. Man ſchildre die Thorheit, über Beſorgniſſe für die Zukunft den Genuſs der Gegenwart zu ver- lieren. Man gewöhne ſie allmählich, wirkliche Uebel mit Ruhe anzuſchaun, ſie als fremde Dinge bey Seite zu ſetzen und darüber zur Ordnung des Tages fortzuſchreiten *). Hypochondriſten ha- ben ein reizbares Gemeingefühl. Sie empfinden in allen Punkten, wohin ſie die Aufmerkſamkeit ihrer Seele richten. Sie bilden ſich daher ein, alle Krankheiten zu haben, von welchen ſie hö- ren. Beſonders quält ſie der Gedanke verlarvter veneriſcher Krankheiten, wenn ſie ſich nicht
*)Kant von der Macht des Gemüths, durch den bloſsen Vorſatz ſeiner krankhaften Gefühle Mei- ſter zu ſeyn. Königsberg 1798. und in dem Streit der Facultäten.
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Umgekehrt dient es oft zu ihrer Beruhigung,
ihnen die offene Wahrheit zu ſagen. Der Profeſ-
ſor Moritz war krank und ſo voller Angſt über
die Ungewiſsheit ſeiner Herſtellung, daſs dies
ſein Fieber ununterbrochen unterhielt. Alle
Hoffnungen, die ihm ſein Arzt Herz machte,
fruchteten nichts. Nun erklärte derſelbe ihm mit
feierlicher Mine, daſs er von ſeiner Krankheit
nicht geneſen würde. Dies wirkte. Nachdem
der erſte Schreck vorüber war, wurde er ruhig
und genas. Man unterrichte ſie in dem Gang
der organiſchen Natur, die aus Spannen langer
Exiſtenz der Individuen ihre Kette flicht, und
nichts giebt, was ſie nicht auch wieder zerſtört.
Man ſchildre die Thorheit, über Beſorgniſſe für
die Zukunft den Genuſs der Gegenwart zu ver-
lieren. Man gewöhne ſie allmählich, wirkliche
Uebel mit Ruhe anzuſchaun, ſie als fremde Dinge
bey Seite zu ſetzen und darüber zur Ordnung des
Tages fortzuſchreiten *). Hypochondriſten ha-
ben ein reizbares Gemeingefühl. Sie empfinden
in allen Punkten, wohin ſie die Aufmerkſamkeit
ihrer Seele richten. Sie bilden ſich daher ein,
alle Krankheiten zu haben, von welchen ſie hö-
ren. Beſonders quält ſie der Gedanke verlarvter
veneriſcher Krankheiten, wenn ſie ſich nicht
*) Kant von der Macht des Gemüths, durch den
bloſsen Vorſatz ſeiner krankhaften Gefühle Mei-
ſter zu ſeyn. Königsberg 1798. und in dem Streit
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/290>, abgerufen am 24.11.2024.
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