Verrückte, welcher des Verstandes ermangelt, der hier unterscheiden muss, hält seine Gesichte für Wahrheit, verliert sich auf den Grenzen der Subjektivität und Objektivität, und lebt in einer idealischen Welt, in welcher sein Ich beides, den Zuschauer und den Schauspieler macht *). Er handelt wie er denkt, also inkonsequent, nach unseren Ansichten. Was soll zur Correktion die- ser kranken Phantasie geschehen? Einige schätz- bare Hülfen hat Diätophilus**) angemerkt; aber ihre Anwendung setzt Spontaneität voraus, die dem Verrückten fehlt. Vorzüglich muss man dahin sehn, dass die zügellosen Spiele der Phantasie durch hinlänglich-starke Gefühls- und Sinneseindrücke gezähmt werden.
Häufig sind sinnliche und moralische Aus- wüchse Ursache der Geisteszerrüttungen. Die Sinnlichkeit herrsoht, die Einbildungskraft über- flügelt den Verstand, Schein und Irrthum, Aber- glaube und Vorurtheile verrücken die richtige Ansicht solcher Gegenstände, an welchen jeder Mensch warmen Antheil nimmt. Liebe, Ehre, Habe, Religion, Gesundheit und persönliche Si- cherheit treten in einem falschen Lichte hervor. Das Heer der Leidenschaften wird rege und die Vernunft geht durch ihre Stürme zu Grunde. Diesen Uebeln soll man durch Kultur des Ver-
*)Büttner d. c. §. 31.
**) 2. Theil. 366 S.
Verrückte, welcher des Verſtandes ermangelt, der hier unterſcheiden muſs, hält ſeine Geſichte für Wahrheit, verliert ſich auf den Grenzen der Subjektivität und Objektivität, und lebt in einer idealiſchen Welt, in welcher ſein Ich beides, den Zuſchauer und den Schauſpieler macht *). Er handelt wie er denkt, alſo inkonſequent, nach unſeren Anſichten. Was ſoll zur Correktion die- ſer kranken Phantaſie geſchehen? Einige ſchätz- bare Hülfen hat Diätophilus**) angemerkt; aber ihre Anwendung ſetzt Spontaneität voraus, die dem Verrückten fehlt. Vorzüglich muſs man dahin ſehn, daſs die zügelloſen Spiele der Phantaſie durch hinlänglich-ſtarke Gefühls- und Sinneseindrücke gezähmt werden.
Häufig ſind ſinnliche und moraliſche Aus- wüchſe Urſache der Geiſteszerrüttungen. Die Sinnlichkeit herrſoht, die Einbildungskraft über- flügelt den Verſtand, Schein und Irrthum, Aber- glaube und Vorurtheile verrücken die richtige Anſicht ſolcher Gegenſtände, an welchen jeder Menſch warmen Antheil nimmt. Liebe, Ehre, Habe, Religion, Geſundheit und perſönliche Si- cherheit treten in einem falſchen Lichte hervor. Das Heer der Leidenſchaften wird rege und die Vernunft geht durch ihre Stürme zu Grunde. Dieſen Uebeln ſoll man durch Kultur des Ver-
*)Büttner d. c. §. 31.
**) 2. Theil. 366 S.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0284"n="279"/>
Verrückte, welcher des Verſtandes ermangelt,<lb/>
der hier unterſcheiden muſs, hält ſeine Geſichte<lb/>
für Wahrheit, verliert ſich auf den Grenzen der<lb/>
Subjektivität und Objektivität, und lebt in einer<lb/>
idealiſchen Welt, in welcher ſein Ich beides, den<lb/>
Zuſchauer und den Schauſpieler macht <noteplace="foot"n="*)"><hirendition="#g">Büttner</hi> d. c. §. 31.</note>. Er<lb/>
handelt wie er denkt, alſo inkonſequent, nach<lb/>
unſeren Anſichten. Was ſoll zur Correktion die-<lb/>ſer kranken Phantaſie geſchehen? Einige ſchätz-<lb/>
bare Hülfen hat <hirendition="#g">Diätophilus</hi><noteplace="foot"n="**)">2. Theil. 366 S.</note> angemerkt;<lb/>
aber ihre Anwendung ſetzt Spontaneität voraus,<lb/>
die dem Verrückten fehlt. Vorzüglich muſs<lb/>
man dahin ſehn, daſs die zügelloſen Spiele der<lb/>
Phantaſie durch hinlänglich-ſtarke Gefühls- und<lb/>
Sinneseindrücke gezähmt werden.</p><lb/><p>Häufig ſind ſinnliche und moraliſche Aus-<lb/>
wüchſe Urſache der Geiſteszerrüttungen. Die<lb/>
Sinnlichkeit herrſoht, die Einbildungskraft über-<lb/>
flügelt den Verſtand, Schein und Irrthum, Aber-<lb/>
glaube und Vorurtheile verrücken die richtige<lb/>
Anſicht ſolcher Gegenſtände, an welchen jeder<lb/>
Menſch warmen Antheil nimmt. Liebe, Ehre,<lb/>
Habe, Religion, Geſundheit und perſönliche Si-<lb/>
cherheit treten in einem falſchen Lichte hervor.<lb/>
Das Heer der Leidenſchaften wird rege und die<lb/>
Vernunft geht durch ihre Stürme zu Grunde.<lb/>
Dieſen Uebeln ſoll man durch Kultur des <hirendition="#g">Ver-<lb/></hi></p></div></div></body></text></TEI>
[279/0284]
Verrückte, welcher des Verſtandes ermangelt,
der hier unterſcheiden muſs, hält ſeine Geſichte
für Wahrheit, verliert ſich auf den Grenzen der
Subjektivität und Objektivität, und lebt in einer
idealiſchen Welt, in welcher ſein Ich beides, den
Zuſchauer und den Schauſpieler macht *). Er
handelt wie er denkt, alſo inkonſequent, nach
unſeren Anſichten. Was ſoll zur Correktion die-
ſer kranken Phantaſie geſchehen? Einige ſchätz-
bare Hülfen hat Diätophilus **) angemerkt;
aber ihre Anwendung ſetzt Spontaneität voraus,
die dem Verrückten fehlt. Vorzüglich muſs
man dahin ſehn, daſs die zügelloſen Spiele der
Phantaſie durch hinlänglich-ſtarke Gefühls- und
Sinneseindrücke gezähmt werden.
Häufig ſind ſinnliche und moraliſche Aus-
wüchſe Urſache der Geiſteszerrüttungen. Die
Sinnlichkeit herrſoht, die Einbildungskraft über-
flügelt den Verſtand, Schein und Irrthum, Aber-
glaube und Vorurtheile verrücken die richtige
Anſicht ſolcher Gegenſtände, an welchen jeder
Menſch warmen Antheil nimmt. Liebe, Ehre,
Habe, Religion, Geſundheit und perſönliche Si-
cherheit treten in einem falſchen Lichte hervor.
Das Heer der Leidenſchaften wird rege und die
Vernunft geht durch ihre Stürme zu Grunde.
Dieſen Uebeln ſoll man durch Kultur des Ver-
*) Büttner d. c. §. 31.
**) 2. Theil. 366 S.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/284>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.