Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

Verrückte, welcher des Verstandes ermangelt,
der hier unterscheiden muss, hält seine Gesichte
für Wahrheit, verliert sich auf den Grenzen der
Subjektivität und Objektivität, und lebt in einer
idealischen Welt, in welcher sein Ich beides, den
Zuschauer und den Schauspieler macht *). Er
handelt wie er denkt, also inkonsequent, nach
unseren Ansichten. Was soll zur Correktion die-
ser kranken Phantasie geschehen? Einige schätz-
bare Hülfen hat Diätophilus **) angemerkt;
aber ihre Anwendung setzt Spontaneität voraus,
die dem Verrückten fehlt. Vorzüglich muss
man dahin sehn, dass die zügellosen Spiele der
Phantasie durch hinlänglich-starke Gefühls- und
Sinneseindrücke gezähmt werden.

Häufig sind sinnliche und moralische Aus-
wüchse Ursache der Geisteszerrüttungen. Die
Sinnlichkeit herrsoht, die Einbildungskraft über-
flügelt den Verstand, Schein und Irrthum, Aber-
glaube und Vorurtheile verrücken die richtige
Ansicht solcher Gegenstände, an welchen jeder
Mensch warmen Antheil nimmt. Liebe, Ehre,
Habe, Religion, Gesundheit und persönliche Si-
cherheit treten in einem falschen Lichte hervor.
Das Heer der Leidenschaften wird rege und die
Vernunft geht durch ihre Stürme zu Grunde.
Diesen Uebeln soll man durch Kultur des Ver-

*) Büttner d. c. §. 31.
**) 2. Theil. 366 S.

Verrückte, welcher des Verſtandes ermangelt,
der hier unterſcheiden muſs, hält ſeine Geſichte
für Wahrheit, verliert ſich auf den Grenzen der
Subjektivität und Objektivität, und lebt in einer
idealiſchen Welt, in welcher ſein Ich beides, den
Zuſchauer und den Schauſpieler macht *). Er
handelt wie er denkt, alſo inkonſequent, nach
unſeren Anſichten. Was ſoll zur Correktion die-
ſer kranken Phantaſie geſchehen? Einige ſchätz-
bare Hülfen hat Diätophilus **) angemerkt;
aber ihre Anwendung ſetzt Spontaneität voraus,
die dem Verrückten fehlt. Vorzüglich muſs
man dahin ſehn, daſs die zügelloſen Spiele der
Phantaſie durch hinlänglich-ſtarke Gefühls- und
Sinneseindrücke gezähmt werden.

Häufig ſind ſinnliche und moraliſche Aus-
wüchſe Urſache der Geiſteszerrüttungen. Die
Sinnlichkeit herrſoht, die Einbildungskraft über-
flügelt den Verſtand, Schein und Irrthum, Aber-
glaube und Vorurtheile verrücken die richtige
Anſicht ſolcher Gegenſtände, an welchen jeder
Menſch warmen Antheil nimmt. Liebe, Ehre,
Habe, Religion, Geſundheit und perſönliche Si-
cherheit treten in einem falſchen Lichte hervor.
Das Heer der Leidenſchaften wird rege und die
Vernunft geht durch ihre Stürme zu Grunde.
Dieſen Uebeln ſoll man durch Kultur des Ver-

*) Büttner d. c. §. 31.
**) 2. Theil. 366 S.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0284" n="279"/>
Verrückte, welcher des Ver&#x017F;tandes ermangelt,<lb/>
der hier unter&#x017F;cheiden mu&#x017F;s, hält &#x017F;eine Ge&#x017F;ichte<lb/>
für Wahrheit, verliert &#x017F;ich auf den Grenzen der<lb/>
Subjektivität und Objektivität, und lebt in einer<lb/>
ideali&#x017F;chen Welt, in welcher &#x017F;ein Ich beides, den<lb/>
Zu&#x017F;chauer und den Schau&#x017F;pieler macht <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#g">Büttner</hi> d. c. §. 31.</note>. Er<lb/>
handelt wie er denkt, al&#x017F;o inkon&#x017F;equent, nach<lb/>
un&#x017F;eren An&#x017F;ichten. Was &#x017F;oll zur Correktion die-<lb/>
&#x017F;er kranken Phanta&#x017F;ie ge&#x017F;chehen? Einige &#x017F;chätz-<lb/>
bare Hülfen hat <hi rendition="#g">Diätophilus</hi> <note place="foot" n="**)">2. Theil. 366 S.</note> angemerkt;<lb/>
aber ihre Anwendung &#x017F;etzt Spontaneität voraus,<lb/>
die dem Verrückten fehlt. Vorzüglich mu&#x017F;s<lb/>
man dahin &#x017F;ehn, da&#x017F;s die zügello&#x017F;en Spiele der<lb/>
Phanta&#x017F;ie durch hinlänglich-&#x017F;tarke Gefühls- und<lb/>
Sinneseindrücke gezähmt werden.</p><lb/>
          <p>Häufig &#x017F;ind &#x017F;innliche und morali&#x017F;che Aus-<lb/>
wüch&#x017F;e Ur&#x017F;ache der Gei&#x017F;teszerrüttungen. Die<lb/>
Sinnlichkeit herr&#x017F;oht, die Einbildungskraft über-<lb/>
flügelt den Ver&#x017F;tand, Schein und Irrthum, Aber-<lb/>
glaube und Vorurtheile verrücken die richtige<lb/>
An&#x017F;icht &#x017F;olcher Gegen&#x017F;tände, an welchen jeder<lb/>
Men&#x017F;ch warmen Antheil nimmt. Liebe, Ehre,<lb/>
Habe, Religion, Ge&#x017F;undheit und per&#x017F;önliche Si-<lb/>
cherheit treten in einem fal&#x017F;chen Lichte hervor.<lb/>
Das Heer der Leiden&#x017F;chaften wird rege und die<lb/>
Vernunft geht durch ihre Stürme zu Grunde.<lb/>
Die&#x017F;en Uebeln &#x017F;oll man durch Kultur des <hi rendition="#g">Ver-<lb/></hi></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[279/0284] Verrückte, welcher des Verſtandes ermangelt, der hier unterſcheiden muſs, hält ſeine Geſichte für Wahrheit, verliert ſich auf den Grenzen der Subjektivität und Objektivität, und lebt in einer idealiſchen Welt, in welcher ſein Ich beides, den Zuſchauer und den Schauſpieler macht *). Er handelt wie er denkt, alſo inkonſequent, nach unſeren Anſichten. Was ſoll zur Correktion die- ſer kranken Phantaſie geſchehen? Einige ſchätz- bare Hülfen hat Diätophilus **) angemerkt; aber ihre Anwendung ſetzt Spontaneität voraus, die dem Verrückten fehlt. Vorzüglich muſs man dahin ſehn, daſs die zügelloſen Spiele der Phantaſie durch hinlänglich-ſtarke Gefühls- und Sinneseindrücke gezähmt werden. Häufig ſind ſinnliche und moraliſche Aus- wüchſe Urſache der Geiſteszerrüttungen. Die Sinnlichkeit herrſoht, die Einbildungskraft über- flügelt den Verſtand, Schein und Irrthum, Aber- glaube und Vorurtheile verrücken die richtige Anſicht ſolcher Gegenſtände, an welchen jeder Menſch warmen Antheil nimmt. Liebe, Ehre, Habe, Religion, Geſundheit und perſönliche Si- cherheit treten in einem falſchen Lichte hervor. Das Heer der Leidenſchaften wird rege und die Vernunft geht durch ihre Stürme zu Grunde. Dieſen Uebeln ſoll man durch Kultur des Ver- *) Büttner d. c. §. 31. **) 2. Theil. 366 S.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/284
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/284>, abgerufen am 24.11.2024.