gestellt und mit Nerven so verschiednen Ur- sprungs versehen, dass ohne gleichzeitige Krank- heit des Gehirns schwerlich eine allgemeine Krankheit aller Sinnorgane gedenkbar ist. Täu- schungen eines Sinnorgans werden daher durch die Wirkung der übrigen und durch das Bewusst- seyn unseres Verhältnisses zur Welt berichtiget. Doch giebt es wirklich Fälle, dass kranke Sinn- organe zur Verrücktheit Anlass geben. Normale Sinnesanschauungen sind durch das Object und die legale Erregbarkeit des Nervensystems, in Ansehung ihrer Form und Materie nothwendig bestimmt. Wenn deswegen die Sinne erkranken, so wird die Welt uns anders, als sie ist, vorge- stellt, der wahre Standpunkt unsers Verhältnisses zu derselben verrückt, und wir verfallen in Wahnsinn, wenn wir die Täuschungen nicht in uns, sondern ausser uns suchen. Der Irresinn im Rausch und in Gefässfiebern scheint zum Theil von Täuschungen der Sinne herzurühren. Die Kranken hören das Geläute der Glocken, das Sausen des Windes, sehen Phantome in einer Klarheit, als wenn sie wirklich wären, oder die wirklichen Objekte in veränderten Farben und Stellungen, Blumen auf dem Rande der Trink- gefässe und Legionen kleiner Teufelchen, die sich auf der Bettdecke herumtummlen. Diese Er- scheinungen verschwinden zuweilen, wenn sie die Augen schliessen, oder wenn die Wahrneh- mung der Gegenstände durch mehreres Licht
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geſtellt und mit Nerven ſo verſchiednen Ur- ſprungs verſehen, daſs ohne gleichzeitige Krank- heit des Gehirns ſchwerlich eine allgemeine Krankheit aller Sinnorgane gedenkbar iſt. Täu- ſchungen eines Sinnorgans werden daher durch die Wirkung der übrigen und durch das Bewuſst- ſeyn unſeres Verhältniſſes zur Welt berichtiget. Doch giebt es wirklich Fälle, daſs kranke Sinn- organe zur Verrücktheit Anlaſs geben. Normale Sinnesanſchauungen ſind durch das Object und die legale Erregbarkeit des Nervenſyſtems, in Anſehung ihrer Form und Materie nothwendig beſtimmt. Wenn deswegen die Sinne erkranken, ſo wird die Welt uns anders, als ſie iſt, vorge- ſtellt, der wahre Standpunkt unſers Verhältniſſes zu derſelben verrückt, und wir verfallen in Wahnſinn, wenn wir die Täuſchungen nicht in uns, ſondern auſser uns ſuchen. Der Irreſinn im Rauſch und in Gefäſsfiebern ſcheint zum Theil von Täuſchungen der Sinne herzurühren. Die Kranken hören das Geläute der Glocken, das Sauſen des Windes, ſehen Phantome in einer Klarheit, als wenn ſie wirklich wären, oder die wirklichen Objekte in veränderten Farben und Stellungen, Blumen auf dem Rande der Trink- gefäſse und Legionen kleiner Teufelchen, die ſich auf der Bettdecke herumtummlen. Dieſe Er- ſcheinungen verſchwinden zuweilen, wenn ſie die Augen ſchlieſsen, oder wenn die Wahrneh- mung der Gegenſtände durch mehreres Licht
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geſtellt und mit Nerven ſo verſchiednen Ur-
ſprungs verſehen, daſs ohne gleichzeitige Krank-
heit des Gehirns ſchwerlich eine allgemeine
Krankheit aller Sinnorgane gedenkbar iſt. Täu-
ſchungen eines Sinnorgans werden daher durch
die Wirkung der übrigen und durch das Bewuſst-
ſeyn unſeres Verhältniſſes zur Welt berichtiget.
Doch giebt es wirklich Fälle, daſs kranke Sinn-
organe zur Verrücktheit Anlaſs geben. Normale
Sinnesanſchauungen ſind durch das Object und
die legale Erregbarkeit des Nervenſyſtems, in
Anſehung ihrer Form und Materie nothwendig
beſtimmt. Wenn deswegen die Sinne erkranken,
ſo wird die Welt uns anders, als ſie iſt, vorge-
ſtellt, der wahre Standpunkt unſers Verhältniſſes
zu derſelben verrückt, und wir verfallen in
Wahnſinn, wenn wir die Täuſchungen nicht in
uns, ſondern auſser uns ſuchen. Der Irreſinn im
Rauſch und in Gefäſsfiebern ſcheint zum Theil
von Täuſchungen der Sinne herzurühren. Die
Kranken hören das Geläute der Glocken, das
Sauſen des Windes, ſehen Phantome in einer
Klarheit, als wenn ſie wirklich wären, oder die
wirklichen Objekte in veränderten Farben und
Stellungen, Blumen auf dem Rande der Trink-
gefäſse und Legionen kleiner Teufelchen, die ſich
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/278>, abgerufen am 26.11.2024.
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