des Quecksilbers, Selbstmord. Ein Mensch, dem der Fuss von einer Compression der Nerven in der Kniekehle eingeschlafen ist, hat das Gefühl als wenn ihm ein Fuss fehle. Allein er weiss, woher dies Gefühl rührt, hat es schon sonst gehabt, es verschwindet bald wieder, er sieht seinen Fuss mit den Augen und greift ihn mit den Händen. Gesetzt aber dies Gefühl sey von inneren Ursachen entstanden, daure fort, bemeistere sich ganz der Aufmerksamkeit eines Hypochondristen. Kann dann nicht dasselbe ihn veranlassen, dass er seinem Gemeingefühl und der Phantasie mehr, als dem Getast und dem Gesicht traue, dass er sich allmä- lig überrede, der Fuss fehle ihm oder bestehe wenigstens aus einer andern Materie? Von einer ähnlichen Taubheit der Hälfte des Kopfs rührte wahrscheinlich die Krankheit eines Frauenzim- mers her, die sonst vollkommen bey Verstande war, aber sich einbildete, sie habe den halben Kopf verlohren *). Mir ist es höchst wahrschein- lich, dass aller Wahnsinn, der sich auf veränderte Grösse und Gestalt und auf Umwandelungen des Stoffs des Körpers oder seiner einzelnen Theile bezieht, aus dieser Quelle entspringe. Chiaru- gi**) erzählt von einer Frau, die sich einbildete, sie sey vom Teufel besessen, der des Nachts mit
*)Muratori l. c. 2. Bd. 57 S.
**) l. c. 257 S.
des Queckſilbers, Selbſtmord. Ein Menſch, dem der Fuſs von einer Compreſſion der Nerven in der Kniekehle eingeſchlafen iſt, hat das Gefühl als wenn ihm ein Fuſs fehle. Allein er weiſs, woher dies Gefühl rührt, hat es ſchon ſonſt gehabt, es verſchwindet bald wieder, er ſieht ſeinen Fuſs mit den Augen und greift ihn mit den Händen. Geſetzt aber dies Gefühl ſey von inneren Urſachen entſtanden, daure fort, bemeiſtere ſich ganz der Aufmerkſamkeit eines Hypochondriſten. Kann dann nicht daſſelbe ihn veranlaſſen, daſs er ſeinem Gemeingefühl und der Phantaſie mehr, als dem Getaſt und dem Geſicht traue, daſs er ſich allmä- lig überrede, der Fuſs fehle ihm oder beſtehe wenigſtens aus einer andern Materie? Von einer ähnlichen Taubheit der Hälfte des Kopfs rührte wahrſcheinlich die Krankheit eines Frauenzim- mers her, die ſonſt vollkommen bey Verſtande war, aber ſich einbildete, ſie habe den halben Kopf verlohren *). Mir iſt es höchſt wahrſchein- lich, daſs aller Wahnſinn, der ſich auf veränderte Gröſse und Geſtalt und auf Umwandelungen des Stoffs des Körpers oder ſeiner einzelnen Theile bezieht, aus dieſer Quelle entſpringe. Chiaru- gi**) erzählt von einer Frau, die ſich einbildete, ſie ſey vom Teufel beſeſſen, der des Nachts mit
*)Muratori l. c. 2. Bd. 57 S.
**) l. c. 257 S.
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des Queckſilbers, Selbſtmord. Ein Menſch, dem
der Fuſs von einer Compreſſion der Nerven in der
Kniekehle eingeſchlafen iſt, hat das Gefühl als
wenn ihm ein Fuſs fehle. Allein er weiſs, woher
dies Gefühl rührt, hat es ſchon ſonſt gehabt, es
verſchwindet bald wieder, er ſieht ſeinen Fuſs
mit den Augen und greift ihn mit den Händen.
Geſetzt aber dies Gefühl ſey von inneren Urſachen
entſtanden, daure fort, bemeiſtere ſich ganz der
Aufmerkſamkeit eines Hypochondriſten. Kann
dann nicht daſſelbe ihn veranlaſſen, daſs er ſeinem
Gemeingefühl und der Phantaſie mehr, als dem
Getaſt und dem Geſicht traue, daſs er ſich allmä-
lig überrede, der Fuſs fehle ihm oder beſtehe
wenigſtens aus einer andern Materie? Von einer
ähnlichen Taubheit der Hälfte des Kopfs rührte
wahrſcheinlich die Krankheit eines Frauenzim-
mers her, die ſonſt vollkommen bey Verſtande
war, aber ſich einbildete, ſie habe den halben
Kopf verlohren *). Mir iſt es höchſt wahrſchein-
lich, daſs aller Wahnſinn, der ſich auf veränderte
Gröſse und Geſtalt und auf Umwandelungen des
Stoffs des Körpers oder ſeiner einzelnen Theile
bezieht, aus dieſer Quelle entſpringe. Chiaru-
gi **) erzählt von einer Frau, die ſich einbildete,
ſie ſey vom Teufel beſeſſen, der des Nachts mit
*) Muratori l. c. 2. Bd. 57 S.
**) l. c. 257 S.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 270. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/275>, abgerufen am 26.11.2024.
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