Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

stellungen in ihre Theile auflösen, diese unter sich
und mit andern vergleichen, gleichartige Merk-
male absondern und sie zu neuen Begriffen zu-
sammenfassen. Allmälig schreitet man zu schwe-
reren Aufgaben. Anfangs wird der Verstand in
Beziehung auf Gegenstände geübt, die gleichgül-
tig sind; in der Folge müssen seine besondern
Schwächen aufgesucht, Vorurtheile bekämpft,
falsche Begriffe von Ehre, Habe, Liebe, Reli-
gion u. s. w. berichtiget werden, die mit der ob-
waltenden Verrücktheit in Verbindung stehn.
Zuletzt muss der Kranke zur Selbstthätigkeit in
der Cultur seines Verstandes angereizt werden,
das Verhältniss seiner Seelenkräfte ausspähn und
diejenigen anbaun, die am meisten zurück sind.
Hier hat der Psychologe des Tollhauses abermals
ein weites Feld vor sich, das zu bearbeiten ihm
besonders obliegt.

Zur Cultur des Begehrungsvermögens
gelangen wir endlich durch die Cultur der obigen
Seelenkräfte. Wir machen rohe Züge durchs
Gemeingefühl, die Hang nach Dingen, welche
Lust, und Abscheu gegen andere wecken, welche
Schmerz verursachen. Wir stellen dem Kranken
Objekte vor, die er nach seinen erforschten Nei-
gungen begehren oder verabscheuen muss. Ent-
fernung des Gegenstandes schwächt die Begierde,
wenn sie schwach; entflammt dieselbe, wenn sie
stark ist. Endlich suchen wir durch den Anbau
der Vernunft die Freiheit des Willens wieder

ſtellungen in ihre Theile auflöſen, dieſe unter ſich
und mit andern vergleichen, gleichartige Merk-
male abſondern und ſie zu neuen Begriffen zu-
ſammenfaſſen. Allmälig ſchreitet man zu ſchwe-
reren Aufgaben. Anfangs wird der Verſtand in
Beziehung auf Gegenſtände geübt, die gleichgül-
tig ſind; in der Folge müſſen ſeine beſondern
Schwächen aufgeſucht, Vorurtheile bekämpft,
falſche Begriffe von Ehre, Habe, Liebe, Reli-
gion u. ſ. w. berichtiget werden, die mit der ob-
waltenden Verrücktheit in Verbindung ſtehn.
Zuletzt muſs der Kranke zur Selbſtthätigkeit in
der Cultur ſeines Verſtandes angereizt werden,
das Verhältniſs ſeiner Seelenkräfte ausſpähn und
diejenigen anbaun, die am meiſten zurück ſind.
Hier hat der Pſychologe des Tollhauſes abermals
ein weites Feld vor ſich, das zu bearbeiten ihm
beſonders obliegt.

Zur Cultur des Begehrungsvermögens
gelangen wir endlich durch die Cultur der obigen
Seelenkräfte. Wir machen rohe Züge durchs
Gemeingefühl, die Hang nach Dingen, welche
Luſt, und Abſcheu gegen andere wecken, welche
Schmerz verurſachen. Wir ſtellen dem Kranken
Objekte vor, die er nach ſeinen erforſchten Nei-
gungen begehren oder verabſcheuen muſs. Ent-
fernung des Gegenſtandes ſchwächt die Begierde,
wenn ſie ſchwach; entflammt dieſelbe, wenn ſie
ſtark iſt. Endlich ſuchen wir durch den Anbau
der Vernunft die Freiheit des Willens wieder

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0257" n="252"/>
&#x017F;tellungen in ihre Theile auflö&#x017F;en, die&#x017F;e unter &#x017F;ich<lb/>
und mit andern vergleichen, gleichartige Merk-<lb/>
male ab&#x017F;ondern und &#x017F;ie zu neuen Begriffen zu-<lb/>
&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;en. Allmälig &#x017F;chreitet man zu &#x017F;chwe-<lb/>
reren Aufgaben. Anfangs wird der Ver&#x017F;tand in<lb/>
Beziehung auf Gegen&#x017F;tände geübt, die gleichgül-<lb/>
tig &#x017F;ind; in der Folge mü&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eine be&#x017F;ondern<lb/>
Schwächen aufge&#x017F;ucht, Vorurtheile bekämpft,<lb/>
fal&#x017F;che Begriffe von Ehre, Habe, Liebe, Reli-<lb/>
gion u. &#x017F;. w. berichtiget werden, die mit der ob-<lb/>
waltenden Verrücktheit in Verbindung &#x017F;tehn.<lb/>
Zuletzt mu&#x017F;s der Kranke zur Selb&#x017F;tthätigkeit in<lb/>
der Cultur &#x017F;eines Ver&#x017F;tandes angereizt werden,<lb/>
das Verhältni&#x017F;s &#x017F;einer Seelenkräfte aus&#x017F;pähn und<lb/>
diejenigen anbaun, die am mei&#x017F;ten zurück &#x017F;ind.<lb/>
Hier hat der P&#x017F;ychologe des Tollhau&#x017F;es abermals<lb/>
ein weites Feld vor &#x017F;ich, das zu bearbeiten ihm<lb/>
be&#x017F;onders obliegt.</p><lb/>
          <p>Zur Cultur des <hi rendition="#g">Begehrungsvermögens</hi><lb/>
gelangen wir endlich durch die Cultur der obigen<lb/>
Seelenkräfte. Wir machen rohe Züge durchs<lb/>
Gemeingefühl, die Hang nach Dingen, welche<lb/>
Lu&#x017F;t, und Ab&#x017F;cheu gegen andere wecken, welche<lb/>
Schmerz verur&#x017F;achen. Wir &#x017F;tellen dem Kranken<lb/>
Objekte vor, die er nach &#x017F;einen erfor&#x017F;chten Nei-<lb/>
gungen begehren oder verab&#x017F;cheuen mu&#x017F;s. Ent-<lb/>
fernung des Gegen&#x017F;tandes &#x017F;chwächt die Begierde,<lb/>
wenn &#x017F;ie &#x017F;chwach; entflammt die&#x017F;elbe, wenn &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;tark i&#x017F;t. Endlich &#x017F;uchen wir durch den Anbau<lb/>
der Vernunft die Freiheit des Willens wieder<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[252/0257] ſtellungen in ihre Theile auflöſen, dieſe unter ſich und mit andern vergleichen, gleichartige Merk- male abſondern und ſie zu neuen Begriffen zu- ſammenfaſſen. Allmälig ſchreitet man zu ſchwe- reren Aufgaben. Anfangs wird der Verſtand in Beziehung auf Gegenſtände geübt, die gleichgül- tig ſind; in der Folge müſſen ſeine beſondern Schwächen aufgeſucht, Vorurtheile bekämpft, falſche Begriffe von Ehre, Habe, Liebe, Reli- gion u. ſ. w. berichtiget werden, die mit der ob- waltenden Verrücktheit in Verbindung ſtehn. Zuletzt muſs der Kranke zur Selbſtthätigkeit in der Cultur ſeines Verſtandes angereizt werden, das Verhältniſs ſeiner Seelenkräfte ausſpähn und diejenigen anbaun, die am meiſten zurück ſind. Hier hat der Pſychologe des Tollhauſes abermals ein weites Feld vor ſich, das zu bearbeiten ihm beſonders obliegt. Zur Cultur des Begehrungsvermögens gelangen wir endlich durch die Cultur der obigen Seelenkräfte. Wir machen rohe Züge durchs Gemeingefühl, die Hang nach Dingen, welche Luſt, und Abſcheu gegen andere wecken, welche Schmerz verurſachen. Wir ſtellen dem Kranken Objekte vor, die er nach ſeinen erforſchten Nei- gungen begehren oder verabſcheuen muſs. Ent- fernung des Gegenſtandes ſchwächt die Begierde, wenn ſie ſchwach; entflammt dieſelbe, wenn ſie ſtark iſt. Endlich ſuchen wir durch den Anbau der Vernunft die Freiheit des Willens wieder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/257
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 252. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/257>, abgerufen am 18.12.2024.