Jeder Kranke ist ein Subject eigner Art, das wie jedes Kind nach seiner Weise gezogen seyn will. Unbedingte Regeln giebt es daher auch hier, wie überall nicht. Der Arzt muss sie mit Hülfe seiner praktischen Fertigkeit dem individuellen Fall an- passen. Der rohe Naturmensch und der an Druck gewöhnte Sklave kann durch eine harte, der Mann von Bildung und Ehrgefühl durch eine sanftere Behandlung zum Gehorsam gebracht; der gebeugte Menschenhasser durch Güte und Nachgiebigkeit, der trotzige Wüthrig durch Ernst und unnachlässige Strenge gewonnen werden. Im Anfang führen meistens Mittel, die Furcht ma- chen, am schnellsten zum Ziel. Selbst solche Kranke, die durch Güte gezogen werden müssen, fodern in dieser Periode eine ernsthafte Behand- lung, um ihnen Achtung für ihre Vorgesetzte einzuflössen. Sie ähneln den Kindern, die es versuchen, ihren Willen durchzusetzen, aber bald einlenken, wenn ihrem Vorsatze ein schmerz- haftes Hinderniss in den Weg gestellt wird.
Ich will einen Kranken setzen, der in einem hohen Grade faselt oder kataleptisch und unver- wandt auf einen Gegenstand hinstarrt und daher der Besonnenheit und alles Bewusstseyns äusserer Nothwendigkeit beraubt ist. Denselben will ich von dieser äussersten Grenze durch alle Stufen der wiederkehrenden Vernunft bis zum ungebundenen Gebrauch derselben aufwärts führen und für jede Periode die Mittel anzeigen, die derselben ange-
messen
Jeder Kranke iſt ein Subject eigner Art, das wie jedes Kind nach ſeiner Weiſe gezogen ſeyn will. Unbedingte Regeln giebt es daher auch hier, wie überall nicht. Der Arzt muſs ſie mit Hülfe ſeiner praktiſchen Fertigkeit dem individuellen Fall an- paſſen. Der rohe Naturmenſch und der an Druck gewöhnte Sklave kann durch eine harte, der Mann von Bildung und Ehrgefühl durch eine ſanftere Behandlung zum Gehorſam gebracht; der gebeugte Menſchenhaſſer durch Güte und Nachgiebigkeit, der trotzige Wüthrig durch Ernſt und unnachläſſige Strenge gewonnen werden. Im Anfang führen meiſtens Mittel, die Furcht ma- chen, am ſchnellſten zum Ziel. Selbſt ſolche Kranke, die durch Güte gezogen werden müſſen, fodern in dieſer Periode eine ernſthafte Behand- lung, um ihnen Achtung für ihre Vorgeſetzte einzuflöſsen. Sie ähneln den Kindern, die es verſuchen, ihren Willen durchzuſetzen, aber bald einlenken, wenn ihrem Vorſatze ein ſchmerz- haftes Hinderniſs in den Weg geſtellt wird.
Ich will einen Kranken ſetzen, der in einem hohen Grade faſelt oder kataleptiſch und unver- wandt auf einen Gegenſtand hinſtarrt und daher der Beſonnenheit und alles Bewuſstſeyns äuſserer Nothwendigkeit beraubt iſt. Denſelben will ich von dieſer äuſserſten Grenze durch alle Stufen der wiederkehrenden Vernunft bis zum ungebundenen Gebrauch derſelben aufwärts führen und für jede Periode die Mittel anzeigen, die derſelben ange-
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Jeder Kranke iſt ein Subject eigner Art, das wie
jedes Kind nach ſeiner Weiſe gezogen ſeyn will.
Unbedingte Regeln giebt es daher auch hier, wie
überall nicht. Der Arzt muſs ſie mit Hülfe ſeiner
praktiſchen Fertigkeit dem individuellen Fall an-
paſſen. Der rohe Naturmenſch und der an Druck
gewöhnte Sklave kann durch eine harte, der
Mann von Bildung und Ehrgefühl durch eine
ſanftere Behandlung zum Gehorſam gebracht;
der gebeugte Menſchenhaſſer durch Güte und
Nachgiebigkeit, der trotzige Wüthrig durch Ernſt
und unnachläſſige Strenge gewonnen werden. Im
Anfang führen meiſtens Mittel, die Furcht ma-
chen, am ſchnellſten zum Ziel. Selbſt ſolche
Kranke, die durch Güte gezogen werden müſſen,
fodern in dieſer Periode eine ernſthafte Behand-
lung, um ihnen Achtung für ihre Vorgeſetzte
einzuflöſsen. Sie ähneln den Kindern, die es
verſuchen, ihren Willen durchzuſetzen, aber
bald einlenken, wenn ihrem Vorſatze ein ſchmerz-
haftes Hinderniſs in den Weg geſtellt wird.
Ich will einen Kranken ſetzen, der in einem
hohen Grade faſelt oder kataleptiſch und unver-
wandt auf einen Gegenſtand hinſtarrt und daher
der Beſonnenheit und alles Bewuſstſeyns äuſserer
Nothwendigkeit beraubt iſt. Denſelben will ich
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/229>, abgerufen am 23.12.2024.
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