Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

Jeder Kranke ist ein Subject eigner Art, das wie
jedes Kind nach seiner Weise gezogen seyn will.
Unbedingte Regeln giebt es daher auch hier, wie
überall nicht. Der Arzt muss sie mit Hülfe seiner
praktischen Fertigkeit dem individuellen Fall an-
passen. Der rohe Naturmensch und der an Druck
gewöhnte Sklave kann durch eine harte, der
Mann von Bildung und Ehrgefühl durch eine
sanftere Behandlung zum Gehorsam gebracht;
der gebeugte Menschenhasser durch Güte und
Nachgiebigkeit, der trotzige Wüthrig durch Ernst
und unnachlässige Strenge gewonnen werden. Im
Anfang führen meistens Mittel, die Furcht ma-
chen, am schnellsten zum Ziel. Selbst solche
Kranke, die durch Güte gezogen werden müssen,
fodern in dieser Periode eine ernsthafte Behand-
lung, um ihnen Achtung für ihre Vorgesetzte
einzuflössen. Sie ähneln den Kindern, die es
versuchen, ihren Willen durchzusetzen, aber
bald einlenken, wenn ihrem Vorsatze ein schmerz-
haftes Hinderniss in den Weg gestellt wird.

Ich will einen Kranken setzen, der in einem
hohen Grade faselt oder kataleptisch und unver-
wandt auf einen Gegenstand hinstarrt und daher
der Besonnenheit und alles Bewusstseyns äusserer
Nothwendigkeit beraubt ist. Denselben will ich
von dieser äussersten Grenze durch alle Stufen der
wiederkehrenden Vernunft bis zum ungebundenen
Gebrauch derselben aufwärts führen und für jede
Periode die Mittel anzeigen, die derselben ange-

messen

Jeder Kranke iſt ein Subject eigner Art, das wie
jedes Kind nach ſeiner Weiſe gezogen ſeyn will.
Unbedingte Regeln giebt es daher auch hier, wie
überall nicht. Der Arzt muſs ſie mit Hülfe ſeiner
praktiſchen Fertigkeit dem individuellen Fall an-
paſſen. Der rohe Naturmenſch und der an Druck
gewöhnte Sklave kann durch eine harte, der
Mann von Bildung und Ehrgefühl durch eine
ſanftere Behandlung zum Gehorſam gebracht;
der gebeugte Menſchenhaſſer durch Güte und
Nachgiebigkeit, der trotzige Wüthrig durch Ernſt
und unnachläſſige Strenge gewonnen werden. Im
Anfang führen meiſtens Mittel, die Furcht ma-
chen, am ſchnellſten zum Ziel. Selbſt ſolche
Kranke, die durch Güte gezogen werden müſſen,
fodern in dieſer Periode eine ernſthafte Behand-
lung, um ihnen Achtung für ihre Vorgeſetzte
einzuflöſsen. Sie ähneln den Kindern, die es
verſuchen, ihren Willen durchzuſetzen, aber
bald einlenken, wenn ihrem Vorſatze ein ſchmerz-
haftes Hinderniſs in den Weg geſtellt wird.

Ich will einen Kranken ſetzen, der in einem
hohen Grade faſelt oder kataleptiſch und unver-
wandt auf einen Gegenſtand hinſtarrt und daher
der Beſonnenheit und alles Bewuſstſeyns äuſserer
Nothwendigkeit beraubt iſt. Denſelben will ich
von dieſer äuſserſten Grenze durch alle Stufen der
wiederkehrenden Vernunft bis zum ungebundenen
Gebrauch derſelben aufwärts führen und für jede
Periode die Mittel anzeigen, die derſelben ange-

meſſen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0229" n="224"/>
Jeder Kranke i&#x017F;t ein Subject eigner Art, das wie<lb/>
jedes Kind nach &#x017F;einer Wei&#x017F;e gezogen &#x017F;eyn will.<lb/>
Unbedingte Regeln giebt es daher auch hier, wie<lb/>
überall nicht. Der Arzt mu&#x017F;s &#x017F;ie mit Hülfe &#x017F;einer<lb/>
prakti&#x017F;chen Fertigkeit dem individuellen Fall an-<lb/>
pa&#x017F;&#x017F;en. Der rohe Naturmen&#x017F;ch und der an Druck<lb/>
gewöhnte Sklave kann durch eine harte, der<lb/>
Mann von Bildung und Ehrgefühl durch eine<lb/>
&#x017F;anftere Behandlung zum Gehor&#x017F;am gebracht;<lb/>
der gebeugte Men&#x017F;chenha&#x017F;&#x017F;er durch Güte und<lb/>
Nachgiebigkeit, der trotzige Wüthrig durch Ern&#x017F;t<lb/>
und unnachlä&#x017F;&#x017F;ige Strenge gewonnen werden. Im<lb/>
Anfang führen mei&#x017F;tens Mittel, die Furcht ma-<lb/>
chen, am &#x017F;chnell&#x017F;ten zum Ziel. Selb&#x017F;t &#x017F;olche<lb/>
Kranke, die durch Güte gezogen werden mü&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
fodern in die&#x017F;er Periode eine ern&#x017F;thafte Behand-<lb/>
lung, um ihnen Achtung für ihre Vorge&#x017F;etzte<lb/>
einzuflö&#x017F;sen. Sie ähneln den Kindern, die es<lb/>
ver&#x017F;uchen, ihren Willen durchzu&#x017F;etzen, aber<lb/>
bald einlenken, wenn ihrem Vor&#x017F;atze ein &#x017F;chmerz-<lb/>
haftes Hinderni&#x017F;s in den Weg ge&#x017F;tellt wird.</p><lb/>
          <p>Ich will einen Kranken &#x017F;etzen, der in einem<lb/>
hohen Grade fa&#x017F;elt oder katalepti&#x017F;ch und unver-<lb/>
wandt auf einen Gegen&#x017F;tand hin&#x017F;tarrt und daher<lb/>
der Be&#x017F;onnenheit und alles Bewu&#x017F;st&#x017F;eyns äu&#x017F;serer<lb/>
Nothwendigkeit beraubt i&#x017F;t. Den&#x017F;elben will ich<lb/>
von die&#x017F;er äu&#x017F;ser&#x017F;ten Grenze durch alle Stufen der<lb/>
wiederkehrenden Vernunft bis zum ungebundenen<lb/>
Gebrauch der&#x017F;elben aufwärts führen und für jede<lb/>
Periode die Mittel anzeigen, die der&#x017F;elben ange-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">me&#x017F;&#x017F;en</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[224/0229] Jeder Kranke iſt ein Subject eigner Art, das wie jedes Kind nach ſeiner Weiſe gezogen ſeyn will. Unbedingte Regeln giebt es daher auch hier, wie überall nicht. Der Arzt muſs ſie mit Hülfe ſeiner praktiſchen Fertigkeit dem individuellen Fall an- paſſen. Der rohe Naturmenſch und der an Druck gewöhnte Sklave kann durch eine harte, der Mann von Bildung und Ehrgefühl durch eine ſanftere Behandlung zum Gehorſam gebracht; der gebeugte Menſchenhaſſer durch Güte und Nachgiebigkeit, der trotzige Wüthrig durch Ernſt und unnachläſſige Strenge gewonnen werden. Im Anfang führen meiſtens Mittel, die Furcht ma- chen, am ſchnellſten zum Ziel. Selbſt ſolche Kranke, die durch Güte gezogen werden müſſen, fodern in dieſer Periode eine ernſthafte Behand- lung, um ihnen Achtung für ihre Vorgeſetzte einzuflöſsen. Sie ähneln den Kindern, die es verſuchen, ihren Willen durchzuſetzen, aber bald einlenken, wenn ihrem Vorſatze ein ſchmerz- haftes Hinderniſs in den Weg geſtellt wird. Ich will einen Kranken ſetzen, der in einem hohen Grade faſelt oder kataleptiſch und unver- wandt auf einen Gegenſtand hinſtarrt und daher der Beſonnenheit und alles Bewuſstſeyns äuſserer Nothwendigkeit beraubt iſt. Denſelben will ich von dieſer äuſserſten Grenze durch alle Stufen der wiederkehrenden Vernunft bis zum ungebundenen Gebrauch derſelben aufwärts führen und für jede Periode die Mittel anzeigen, die derſelben ange- meſſen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/229
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/229>, abgerufen am 23.12.2024.