durch dasselbe unmittelbar zu unserem Herzen, ohne erst, wie die Redekunst, ihren Weg durch die Phantasie, und den Verstand zu nehmen. Sie spannt unsere Empfindungen, macht unsere Lei- denschaften nach einander rege, und lockt sie gleichsam aus dem Hintergrunde der Seele sanft hervor. Die Musik beruhiget den Sturm der Seele, verjagt die Nebel des Trübsinns und dämpft zuweilen den regellosen Tumult in der Tobsucht mit dem besten Erfolg. Daher ist sie in der Raserey oft, und fast immer in solchen Geisteszerrüttungen heilsam, die mit Schwermuth verbunden sind. Bey Starrsuchten des Vorstel- lungsvermögens und Ideenjagden, kann sie aus diesem gefährlichen Spiele retten, die Seele be- weglich machen, oder auf der Flucht ihr einen Ankerplatz anweisen, wo sie sich anhalten kann. Sie ist endlich für Liebhaber in der Reconvales- cenz ein Mittel, das sie beschäfftiget, ableitet, zerstreut und stärkt. Uebrigens fehlt es auch hier an Beobachtungen und Resultaten über diesen Gegenstand. In welchen Fällen und zu welcher Zeit soll die Musik angewandt werden? Welche Art für jeden Fall, und auf was für Instrumenten? Denn es kann kaum bezweifelt werden, dass sie fürs Tollhaus, nach der Stimmung des Kranken zur Starrsucht oder zur Flatterhaftigkeit, nach der Art seines Wahnsinns, nach der eignen Mo- difikation seiner Gefühle und nach der Mensur der Thätigkeit seiner Seele einer besonderen Compo-
durch daſſelbe unmittelbar zu unſerem Herzen, ohne erſt, wie die Redekunſt, ihren Weg durch die Phantaſie, und den Verſtand zu nehmen. Sie ſpannt unſere Empfindungen, macht unſere Lei- denſchaften nach einander rege, und lockt ſie gleichſam aus dem Hintergrunde der Seele ſanft hervor. Die Muſik beruhiget den Sturm der Seele, verjagt die Nebel des Trübſinns und dämpft zuweilen den regelloſen Tumult in der Tobſucht mit dem beſten Erfolg. Daher iſt ſie in der Raſerey oft, und faſt immer in ſolchen Geiſteszerrüttungen heilſam, die mit Schwermuth verbunden ſind. Bey Starrſuchten des Vorſtel- lungsvermögens und Ideenjagden, kann ſie aus dieſem gefährlichen Spiele retten, die Seele be- weglich machen, oder auf der Flucht ihr einen Ankerplatz anweiſen, wo ſie ſich anhalten kann. Sie iſt endlich für Liebhaber in der Reconvales- cenz ein Mittel, das ſie beſchäfftiget, ableitet, zerſtreut und ſtärkt. Uebrigens fehlt es auch hier an Beobachtungen und Reſultaten über dieſen Gegenſtand. In welchen Fällen und zu welcher Zeit ſoll die Muſik angewandt werden? Welche Art für jeden Fall, und auf was für Inſtrumenten? Denn es kann kaum bezweifelt werden, daſs ſie fürs Tollhaus, nach der Stimmung des Kranken zur Starrſucht oder zur Flatterhaftigkeit, nach der Art ſeines Wahnſinns, nach der eignen Mo- difikation ſeiner Gefühle und nach der Menſur der Thätigkeit ſeiner Seele einer beſonderen Compo-
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[207/0212]
durch daſſelbe unmittelbar zu unſerem Herzen,
ohne erſt, wie die Redekunſt, ihren Weg durch
die Phantaſie, und den Verſtand zu nehmen. Sie
ſpannt unſere Empfindungen, macht unſere Lei-
denſchaften nach einander rege, und lockt ſie
gleichſam aus dem Hintergrunde der Seele ſanft
hervor. Die Muſik beruhiget den Sturm der
Seele, verjagt die Nebel des Trübſinns und
dämpft zuweilen den regelloſen Tumult in der
Tobſucht mit dem beſten Erfolg. Daher iſt ſie
in der Raſerey oft, und faſt immer in ſolchen
Geiſteszerrüttungen heilſam, die mit Schwermuth
verbunden ſind. Bey Starrſuchten des Vorſtel-
lungsvermögens und Ideenjagden, kann ſie aus
dieſem gefährlichen Spiele retten, die Seele be-
weglich machen, oder auf der Flucht ihr einen
Ankerplatz anweiſen, wo ſie ſich anhalten kann.
Sie iſt endlich für Liebhaber in der Reconvales-
cenz ein Mittel, das ſie beſchäfftiget, ableitet,
zerſtreut und ſtärkt. Uebrigens fehlt es auch
hier an Beobachtungen und Reſultaten über dieſen
Gegenſtand. In welchen Fällen und zu welcher
Zeit ſoll die Muſik angewandt werden? Welche
Art für jeden Fall, und auf was für Inſtrumenten?
Denn es kann kaum bezweifelt werden, daſs ſie
fürs Tollhaus, nach der Stimmung des Kranken
zur Starrſucht oder zur Flatterhaftigkeit, nach
der Art ſeines Wahnſinns, nach der eignen Mo-
difikation ſeiner Gefühle und nach der Menſur der
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/212>, abgerufen am 25.11.2024.
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