ich nicht, wo die Phantasterey herkommen sollte, um die gewöhnlichen Empfindungen, die ihn al- lein unablässig beschäftigen, zu verdrängen. Wel- cher Wahnsinn kann ihm wol anwandeln, da er niemals Ursache hat, sich in seinem Urtheile weit zu versteigen? Der Wahnwitz liegt ganz über seine Fähigkeit. Er wird, wenn er im Kopfe krank ist, entweder blödsinnig oder toll seyn, und auch dieses muss höchst selten geschehen, denn er ist mehrentheils gesund, weil er frey ist, und Bewegung hat. In der bürgerlichen Verfas- sung finden sich eigentlich die Gährungsmittel zu allem diesen Verderben, die, wenn sie es gleich nicht hervorbringen, gleichwohl es zu unterhal- ten und zu vergrössern dienen.
Dies sind Gründe, die uns Milde gegen Ir- rende gebieten, aus Eigenliebe, ohne Nächstenlie- be. Dennoch perennirt die Barbarey, wie sie aus der rohen Vorzeit auf uns übergetragen ist. Wir sperren diese unglücklichen Geschöpfe gleich Ver- brechern in Tollkoben, ausgestorbne Gefängnis- se, neben den Schlupflöchern der Eulen in öde Klüfte über den Stadtthoren, oder in die feuchten Kellergeschosse der Zuchthäuser ein, wohin nie ein mitleidiger Blick des Menschenfreundes dringt, und lassen sie daselbst, angeschmiedet an Ketten, in ihrem eigenen Unrath verfaulen. Ihre Fesseln haben ihr Fleisch bis auf die Knochen abgerieben, und ihre hohlen und bleichen Gesichter harren das nahen Grabes, das ihren Jammer und unsere
ich nicht, wo die Phantaſterey herkommen ſollte, um die gewöhnlichen Empfindungen, die ihn al- lein unabläſſig beſchäftigen, zu verdrängen. Wel- cher Wahnſinn kann ihm wol anwandeln, da er niemals Urſache hat, ſich in ſeinem Urtheile weit zu verſteigen? Der Wahnwitz liegt ganz über ſeine Fähigkeit. Er wird, wenn er im Kopfe krank iſt, entweder blödſinnig oder toll ſeyn, und auch dieſes muſs höchſt ſelten geſchehen, denn er iſt mehrentheils geſund, weil er frey iſt, und Bewegung hat. In der bürgerlichen Verfaſ- ſung finden ſich eigentlich die Gährungsmittel zu allem dieſen Verderben, die, wenn ſie es gleich nicht hervorbringen, gleichwohl es zu unterhal- ten und zu vergröſsern dienen.
Dies ſind Gründe, die uns Milde gegen Ir- rende gebieten, aus Eigenliebe, ohne Nächſtenlie- be. Dennoch perennirt die Barbarey, wie ſie aus der rohen Vorzeit auf uns übergetragen iſt. Wir ſperren dieſe unglücklichen Geſchöpfe gleich Ver- brechern in Tollkoben, ausgeſtorbne Gefängniſ- ſe, neben den Schlupflöchern der Eulen in öde Klüfte über den Stadtthoren, oder in die feuchten Kellergeſchoſſe der Zuchthäuſer ein, wohin nie ein mitleidiger Blick des Menſchenfreundes dringt, und laſſen ſie daſelbſt, angeſchmiedet an Ketten, in ihrem eigenen Unrath verfaulen. Ihre Feſſeln haben ihr Fleiſch bis auf die Knochen abgerieben, und ihre hohlen und bleichen Geſichter harren das nahen Grabes, das ihren Jammer und unſere
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0019"n="14"/>
ich nicht, wo die Phantaſterey herkommen ſollte,<lb/>
um die gewöhnlichen Empfindungen, die ihn al-<lb/>
lein unabläſſig beſchäftigen, zu verdrängen. Wel-<lb/>
cher Wahnſinn kann ihm wol anwandeln, da er<lb/>
niemals Urſache hat, ſich in ſeinem Urtheile weit<lb/>
zu verſteigen? Der Wahnwitz liegt ganz über<lb/>ſeine Fähigkeit. Er wird, wenn er im Kopfe<lb/>
krank iſt, entweder blödſinnig oder toll ſeyn,<lb/>
und auch dieſes muſs höchſt ſelten geſchehen,<lb/>
denn er iſt mehrentheils geſund, weil er frey iſt,<lb/>
und Bewegung hat. In der bürgerlichen Verfaſ-<lb/>ſung finden ſich eigentlich die Gährungsmittel zu<lb/>
allem dieſen Verderben, die, wenn ſie es gleich<lb/>
nicht hervorbringen, gleichwohl es zu unterhal-<lb/>
ten und zu vergröſsern dienen.</p><lb/><p>Dies ſind Gründe, die uns Milde gegen Ir-<lb/>
rende gebieten, aus Eigenliebe, ohne Nächſtenlie-<lb/>
be. Dennoch perennirt die Barbarey, wie ſie aus<lb/>
der rohen Vorzeit auf uns übergetragen iſt. Wir<lb/>ſperren dieſe unglücklichen Geſchöpfe gleich Ver-<lb/>
brechern in Tollkoben, ausgeſtorbne Gefängniſ-<lb/>ſe, neben den Schlupflöchern der Eulen in öde<lb/>
Klüfte über den Stadtthoren, oder in die feuchten<lb/>
Kellergeſchoſſe der Zuchthäuſer ein, wohin nie<lb/>
ein mitleidiger Blick des Menſchenfreundes dringt,<lb/>
und laſſen ſie daſelbſt, angeſchmiedet an Ketten,<lb/>
in ihrem eigenen Unrath verfaulen. Ihre Feſſeln<lb/>
haben ihr Fleiſch bis auf die Knochen abgerieben,<lb/>
und ihre hohlen und bleichen Geſichter harren<lb/>
das nahen Grabes, das ihren Jammer und unſere<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[14/0019]
ich nicht, wo die Phantaſterey herkommen ſollte,
um die gewöhnlichen Empfindungen, die ihn al-
lein unabläſſig beſchäftigen, zu verdrängen. Wel-
cher Wahnſinn kann ihm wol anwandeln, da er
niemals Urſache hat, ſich in ſeinem Urtheile weit
zu verſteigen? Der Wahnwitz liegt ganz über
ſeine Fähigkeit. Er wird, wenn er im Kopfe
krank iſt, entweder blödſinnig oder toll ſeyn,
und auch dieſes muſs höchſt ſelten geſchehen,
denn er iſt mehrentheils geſund, weil er frey iſt,
und Bewegung hat. In der bürgerlichen Verfaſ-
ſung finden ſich eigentlich die Gährungsmittel zu
allem dieſen Verderben, die, wenn ſie es gleich
nicht hervorbringen, gleichwohl es zu unterhal-
ten und zu vergröſsern dienen.
Dies ſind Gründe, die uns Milde gegen Ir-
rende gebieten, aus Eigenliebe, ohne Nächſtenlie-
be. Dennoch perennirt die Barbarey, wie ſie aus
der rohen Vorzeit auf uns übergetragen iſt. Wir
ſperren dieſe unglücklichen Geſchöpfe gleich Ver-
brechern in Tollkoben, ausgeſtorbne Gefängniſ-
ſe, neben den Schlupflöchern der Eulen in öde
Klüfte über den Stadtthoren, oder in die feuchten
Kellergeſchoſſe der Zuchthäuſer ein, wohin nie
ein mitleidiger Blick des Menſchenfreundes dringt,
und laſſen ſie daſelbſt, angeſchmiedet an Ketten,
in ihrem eigenen Unrath verfaulen. Ihre Feſſeln
haben ihr Fleiſch bis auf die Knochen abgerieben,
und ihre hohlen und bleichen Geſichter harren
das nahen Grabes, das ihren Jammer und unſere
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/19>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.