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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

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starrt. Doch gelingt diese Zerstreuung durch die
Sinne nur in leichten Fällen. In der Folge und
in schweren Fällen suchen wir die Einbildungs-
kraft des Kranken und sein Denkvermögen zu
erregen. Wir schmelzen die sinnlichen Gefühle
mit geistigen, die Befriedigung der Lust mit dem
Interesse des Vorsatzes zusammen. Die Zer-
streuung durch die Sinne darf nicht
grösser seyn, als der Zweck es heischt
.
Denn von einem Uebermaass und einer zu schnel-
len Folge sinnlicher Eindrücke, bey dem wir
keinen Gegenstand festhalten können, entsteht ein
Gefühl der Ohnmacht, das uns niederdrückt.
Das scheinbar zufällige Zerstreuungsmittel
ist willkommen; das für den Kranken erfundene
ihm meistens widrig. Der durch das Zerstreu-
ungsmittel beabsichtigte Zustand der Seele muss
demjenigen in allen Verhältnissen so nahe stehen
als es möglich ist. Die Seele geht leichter zu
verwandten als zu fremden Zuständen über. Es
muss daher den Geist in der nemlichen
Mensur von Thätigkeit setzen
, die er in
dem Zustande hat, der durch dasselbe bekämpft
werden soll. Es wird ihm nicht so schwer zu
einer neuen Action überzugehen, die zwar in
Rücksicht der Qualität anderer, aber doch in
Ansehung der Quantität von der nemlichen Art
ist. Wahrscheinlich hat diese Erfahrung einen
physischen Grund. Die Schwermuth wird abge-
zogen, durch Gegenstände, die den Verstand

ſtarrt. Doch gelingt dieſe Zerſtreuung durch die
Sinne nur in leichten Fällen. In der Folge und
in ſchweren Fällen ſuchen wir die Einbildungs-
kraft des Kranken und ſein Denkvermögen zu
erregen. Wir ſchmelzen die ſinnlichen Gefühle
mit geiſtigen, die Befriedigung der Luſt mit dem
Intereſſe des Vorſatzes zuſammen. Die Zer-
ſtreuung durch die Sinne darf nicht
gröſser ſeyn, als der Zweck es heiſcht
.
Denn von einem Uebermaaſs und einer zu ſchnel-
len Folge ſinnlicher Eindrücke, bey dem wir
keinen Gegenſtand feſthalten können, entſteht ein
Gefühl der Ohnmacht, das uns niederdrückt.
Das ſcheinbar zufällige Zerſtreuungsmittel
iſt willkommen; das für den Kranken erfundene
ihm meiſtens widrig. Der durch das Zerſtreu-
ungsmittel beabſichtigte Zuſtand der Seele muſs
demjenigen in allen Verhältniſſen ſo nahe ſtehen
als es möglich iſt. Die Seele geht leichter zu
verwandten als zu fremden Zuſtänden über. Es
muſs daher den Geiſt in der nemlichen
Menſur von Thätigkeit ſetzen
, die er in
dem Zuſtande hat, der durch daſſelbe bekämpft
werden ſoll. Es wird ihm nicht ſo ſchwer zu
einer neuen Action überzugehen, die zwar in
Rückſicht der Qualität anderer, aber doch in
Anſehung der Quantität von der nemlichen Art
iſt. Wahrſcheinlich hat dieſe Erfahrung einen
phyſiſchen Grund. Die Schwermuth wird abge-
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[175/0180] ſtarrt. Doch gelingt dieſe Zerſtreuung durch die Sinne nur in leichten Fällen. In der Folge und in ſchweren Fällen ſuchen wir die Einbildungs- kraft des Kranken und ſein Denkvermögen zu erregen. Wir ſchmelzen die ſinnlichen Gefühle mit geiſtigen, die Befriedigung der Luſt mit dem Intereſſe des Vorſatzes zuſammen. Die Zer- ſtreuung durch die Sinne darf nicht gröſser ſeyn, als der Zweck es heiſcht. Denn von einem Uebermaaſs und einer zu ſchnel- len Folge ſinnlicher Eindrücke, bey dem wir keinen Gegenſtand feſthalten können, entſteht ein Gefühl der Ohnmacht, das uns niederdrückt. Das ſcheinbar zufällige Zerſtreuungsmittel iſt willkommen; das für den Kranken erfundene ihm meiſtens widrig. Der durch das Zerſtreu- ungsmittel beabſichtigte Zuſtand der Seele muſs demjenigen in allen Verhältniſſen ſo nahe ſtehen als es möglich iſt. Die Seele geht leichter zu verwandten als zu fremden Zuſtänden über. Es muſs daher den Geiſt in der nemlichen Menſur von Thätigkeit ſetzen, die er in dem Zuſtande hat, der durch daſſelbe bekämpft werden ſoll. Es wird ihm nicht ſo ſchwer zu einer neuen Action überzugehen, die zwar in Rückſicht der Qualität anderer, aber doch in Anſehung der Quantität von der nemlichen Art iſt. Wahrſcheinlich hat dieſe Erfahrung einen phyſiſchen Grund. Die Schwermuth wird abge- zogen, durch Gegenſtände, die den Verſtand

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Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/180>, abgerufen am 01.09.2024.