Seite gestellt werden. Beide Methoden bieten sich schwesterlich die Hand. Das angegriffene Gehirn bekömmt zuweilen seinen Ton von selbst wieder, wenn seine stürmischen Bewegungen gedämpft sind; oder der Geist kehrt durch sich zur Ordnung zu- rück, wenn der körperliche Reiz beseitiget ist, der sein Organ ohne Nachlass peinigte. Wenn auch die Kranken zu saftreich oder zu blutarm, zu stumpf oder zu reizbar sind, oder ihr Gehirn mittelbar oder unmittelbar von fremden Körper- Reizen afficirt wird und sie daher vorzüglich der körperlichen Curmethode bedürfen, so wird dieselbe doch, selbst in diesem Fall, da sie sich nie auf die Geisteszerrüttungen selbst, sondern bloss auf ihre Anlagen und Gelegenheiten bezieht, ungemein durch eine zweckmässige psychische Be- handlung gefördert werden. Es ist sogar nicht unmöglich, dass Kranke mit unheilbaren Des- organisationen, in und ausser dem Gehirn, durch psychische Curen von ihrem Wahnsinn geheilt werden können. Diese sind nemlich nicht die Krankheit (zureichende Ursache der Symp- tome), sondern nur Veranlassung zu ihrer Ent- stehung. Ein zerstörter Gehirntheil ist kein Ge- hirn mehr, also auch nicht mehr im Stande, des- sen normale oder abnorme Funktion auszuüben, d. h. Vorstellungen zu erzeugen. Der Wahnsinn hat in diesem Fall nicht in den zerstörten, son- dern in den scheinbar unverletzten Theilen des Gehirns seinen Sitz. Daher werden auch häufig
Seite geſtellt werden. Beide Methoden bieten ſich ſchweſterlich die Hand. Das angegriffene Gehirn bekömmt zuweilen ſeinen Ton von ſelbſt wieder, wenn ſeine ſtürmiſchen Bewegungen gedämpft ſind; oder der Geiſt kehrt durch ſich zur Ordnung zu- rück, wenn der körperliche Reiz beſeitiget iſt, der ſein Organ ohne Nachlaſs peinigte. Wenn auch die Kranken zu ſaftreich oder zu blutarm, zu ſtumpf oder zu reizbar ſind, oder ihr Gehirn mittelbar oder unmittelbar von fremden Körper- Reizen afficirt wird und ſie daher vorzüglich der körperlichen Curmethode bedürfen, ſo wird dieſelbe doch, ſelbſt in dieſem Fall, da ſie ſich nie auf die Geiſteszerrüttungen ſelbſt, ſondern bloſs auf ihre Anlagen und Gelegenheiten bezieht, ungemein durch eine zweckmäſsige pſychiſche Be- handlung gefördert werden. Es iſt ſogar nicht unmöglich, daſs Kranke mit unheilbaren Des- organiſationen, in und auſser dem Gehirn, durch pſychiſche Curen von ihrem Wahnſinn geheilt werden können. Dieſe ſind nemlich nicht die Krankheit (zureichende Urſache der Symp- tome), ſondern nur Veranlaſſung zu ihrer Ent- ſtehung. Ein zerſtörter Gehirntheil iſt kein Ge- hirn mehr, alſo auch nicht mehr im Stande, deſ- ſen normale oder abnorme Funktion auszuüben, d. h. Vorſtellungen zu erzeugen. Der Wahnſinn hat in dieſem Fall nicht in den zerſtörten, ſon- dern in den ſcheinbar unverletzten Theilen des Gehirns ſeinen Sitz. Daher werden auch häufig
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Seite geſtellt werden. Beide Methoden bieten ſich
ſchweſterlich die Hand. Das angegriffene Gehirn
bekömmt zuweilen ſeinen Ton von ſelbſt wieder,
wenn ſeine ſtürmiſchen Bewegungen gedämpft ſind;
oder der Geiſt kehrt durch ſich zur Ordnung zu-
rück, wenn der körperliche Reiz beſeitiget iſt,
der ſein Organ ohne Nachlaſs peinigte. Wenn
auch die Kranken zu ſaftreich oder zu blutarm,
zu ſtumpf oder zu reizbar ſind, oder ihr Gehirn
mittelbar oder unmittelbar von fremden Körper-
Reizen afficirt wird und ſie daher vorzüglich
der körperlichen Curmethode bedürfen, ſo wird
dieſelbe doch, ſelbſt in dieſem Fall, da ſie ſich
nie auf die Geiſteszerrüttungen ſelbſt, ſondern
bloſs auf ihre Anlagen und Gelegenheiten bezieht,
ungemein durch eine zweckmäſsige pſychiſche Be-
handlung gefördert werden. Es iſt ſogar nicht
unmöglich, daſs Kranke mit unheilbaren Des-
organiſationen, in und auſser dem Gehirn, durch
pſychiſche Curen von ihrem Wahnſinn geheilt
werden können. Dieſe ſind nemlich nicht die
Krankheit (zureichende Urſache der Symp-
tome), ſondern nur Veranlaſſung zu ihrer Ent-
ſtehung. Ein zerſtörter Gehirntheil iſt kein Ge-
hirn mehr, alſo auch nicht mehr im Stande, deſ-
ſen normale oder abnorme Funktion auszuüben,
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hat in dieſem Fall nicht in den zerſtörten, ſon-
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/148>, abgerufen am 22.11.2024.
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