des Messers. Daher hört unser Ohr das Gewim- mer des Kranken nicht. Mag man sich, um den Grund dieses Phänomens bildlich vorzustellen, mit Heineken ein gasförmiges Wesen denken, das die Nerven gleich einem Geist umschwebt, ebbet und fluthet und ihre Thätigkeit vermehrt, wo es sich anhäuft, aber sie in den Theilen ver- ringert, von welchen es abgezogen wird. Die Seele muss also, wenn sie sich einem Geschäffte widmen will, auf alle übrigen Verzicht thun; sie muss dasselbe fahren lassen, wenn sie einen neuen Gegenstand beachten will, d. h. sie muss Behufs der respektiven Thätigkeit nach Will- kühr abstrahiren können. In eben die- ser Einrichtung, die die Seele nöthiget, mehrere Handlungen, nicht gleichzeitig, sondern in der Zeit zu verrichten, ist auch das Gesetz gegründet, nach welchem wir ihre Thätigkeit zu len- ken im Stande sind. Wir dringen ihr neue Ge- schäffte auf; dadurch wird sie gezwungen die vorhandnen schwinden zu lassen; löschen auf die- sem Wege gegenwärtige Ideenreihen aus, und ziehn neue aus der Tiefe hervor.
6) Die Seele muss zwar ihre Kraft, sofern dieselbe beschränkt ist, auf denjenigen Gegen- stand verwenden, welchen sie mit Ernst bearbei- ten will. Doch soll ihr noch soviel Irrita- bilität von der Summe derselben übrig bleiben, dass sie das leise Anpochen des inne- ren und äusseren Sinns wahrzunehmen im Stande
des Meſſers. Daher hört unſer Ohr das Gewim- mer des Kranken nicht. Mag man ſich, um den Grund dieſes Phänomens bildlich vorzuſtellen, mit Heineken ein gasförmiges Weſen denken, das die Nerven gleich einem Geiſt umſchwebt, ebbet und fluthet und ihre Thätigkeit vermehrt, wo es ſich anhäuft, aber ſie in den Theilen ver- ringert, von welchen es abgezogen wird. Die Seele muſs alſo, wenn ſie ſich einem Geſchäffte widmen will, auf alle übrigen Verzicht thun; ſie muſs daſſelbe fahren laſſen, wenn ſie einen neuen Gegenſtand beachten will, d. h. ſie muſs Behufs der reſpektiven Thätigkeit nach Will- kühr abſtrahiren können. In eben die- ſer Einrichtung, die die Seele nöthiget, mehrere Handlungen, nicht gleichzeitig, ſondern in der Zeit zu verrichten, iſt auch das Geſetz gegründet, nach welchem wir ihre Thätigkeit zu len- ken im Stande ſind. Wir dringen ihr neue Ge- ſchäffte auf; dadurch wird ſie gezwungen die vorhandnen ſchwinden zu laſſen; löſchen auf die- ſem Wege gegenwärtige Ideenreihen aus, und ziehn neue aus der Tiefe hervor.
6) Die Seele muſs zwar ihre Kraft, ſofern dieſelbe beſchränkt iſt, auf denjenigen Gegen- ſtand verwenden, welchen ſie mit Ernſt bearbei- ten will. Doch ſoll ihr noch ſoviel Irrita- bilität von der Summe derſelben übrig bleiben, daſs ſie das leiſe Anpochen des inne- ren und äuſseren Sinns wahrzunehmen im Stande
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des Meſſers. Daher hört unſer Ohr das Gewim-
mer des Kranken nicht. Mag man ſich, um den
Grund dieſes Phänomens bildlich vorzuſtellen,
mit Heineken ein gasförmiges Weſen denken,
das die Nerven gleich einem Geiſt umſchwebt,
ebbet und fluthet und ihre Thätigkeit vermehrt,
wo es ſich anhäuft, aber ſie in den Theilen ver-
ringert, von welchen es abgezogen wird. Die
Seele muſs alſo, wenn ſie ſich einem Geſchäffte
widmen will, auf alle übrigen Verzicht thun; ſie
muſs daſſelbe fahren laſſen, wenn ſie einen neuen
Gegenſtand beachten will, d. h. ſie muſs Behufs
der reſpektiven Thätigkeit nach Will-
kühr abſtrahiren können. In eben die-
ſer Einrichtung, die die Seele nöthiget, mehrere
Handlungen, nicht gleichzeitig, ſondern in der
Zeit zu verrichten, iſt auch das Geſetz gegründet,
nach welchem wir ihre Thätigkeit zu len-
ken im Stande ſind. Wir dringen ihr neue Ge-
ſchäffte auf; dadurch wird ſie gezwungen die
vorhandnen ſchwinden zu laſſen; löſchen auf die-
ſem Wege gegenwärtige Ideenreihen aus, und
ziehn neue aus der Tiefe hervor.
6) Die Seele muſs zwar ihre Kraft, ſofern
dieſelbe beſchränkt iſt, auf denjenigen Gegen-
ſtand verwenden, welchen ſie mit Ernſt bearbei-
ten will. Doch ſoll ihr noch ſoviel Irrita-
bilität von der Summe derſelben übrig
bleiben, daſs ſie das leiſe Anpochen des inne-
ren und äuſseren Sinns wahrzunehmen im Stande
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/125>, abgerufen am 23.11.2024.
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