Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

Vertheilung seiner Kräfte gegründet und durch
das Auffassen bestimmter Objekte im Selbstbe-
wusstseyn und der Besonnenheit angekündiget
wird. Sobald dies Verhältniss der dynamischen
Temperatur im Seelenorgan wankt, so wankt
auch die normale Receptivität für äussere Gegen-
stände; es weicht die Ausbreitung der bewirkten
Erregungen ab von den Gesetzen der Association.
Die Angel der Verbindung ist abgezogen, ein-
zelne Getriebe wirken für sich, Nebelsterne drin-
gen aus der Tiefe zur Klarheit hervor, und es
wird in uns eine Welt sichtbar, von der wir nicht
ahndeten, dass sie in uns vorhanden sey.

Was sind dunkele Vorstellungen,
Vorstellungen ohne Bewusstseyn
? Chi-
mären. Doch haben Leibnitzens Anhänger
ihr Daseyn sogar durch Schlüsse bewiesen. "Eine
Kraft, sagen sie, sey ohne Thätigkeit nicht ge-
denkbar, da ihr Wesen im Wirken bestehe. Nun
äussere sich das Seelenvermögen durch Vorstel-
len; es müsse also auch im Schlafe vorstellen.
Weil wir uns aber dessen nicht bewusst sind, so
folge daraus, dass wir im Schlafe Vorstel-
lungen ohne Bewusstseyn haben müs-
sen
." So richtig der Obersatz seyn mag, so
hypothetisch ist der Untersatz, der eine perma-
nente Seelenkraft als unbedingt nothwendig vor-
aussetzt. Die Seele wird und vergeht in jedem
Moment, wie der Körper wird und vergeht und
doch derselbe bleibt Nur wenn wir Vorstellun-

H 2

Vertheilung ſeiner Kräfte gegründet und durch
das Auffaſſen beſtimmter Objekte im Selbſtbe-
wuſstſeyn und der Beſonnenheit angekündiget
wird. Sobald dies Verhältniſs der dynamiſchen
Temperatur im Seelenorgan wankt, ſo wankt
auch die normale Receptivität für äuſsere Gegen-
ſtände; es weicht die Ausbreitung der bewirkten
Erregungen ab von den Geſetzen der Aſſociation.
Die Angel der Verbindung iſt abgezogen, ein-
zelne Getriebe wirken für ſich, Nebelſterne drin-
gen aus der Tiefe zur Klarheit hervor, und es
wird in uns eine Welt ſichtbar, von der wir nicht
ahndeten, daſs ſie in uns vorhanden ſey.

Was ſind dunkele Vorſtellungen,
Vorſtellungen ohne Bewuſstſeyn
? Chi-
mären. Doch haben Leibnitzens Anhänger
ihr Daſeyn ſogar durch Schlüſſe bewieſen. „Eine
Kraft, ſagen ſie, ſey ohne Thätigkeit nicht ge-
denkbar, da ihr Weſen im Wirken beſtehe. Nun
äuſsere ſich das Seelenvermögen durch Vorſtel-
len; es müſſe alſo auch im Schlafe vorſtellen.
Weil wir uns aber deſſen nicht bewuſst ſind, ſo
folge daraus, daſs wir im Schlafe Vorſtel-
lungen ohne Bewuſstſeyn haben müſ-
ſen
.“ So richtig der Oberſatz ſeyn mag, ſo
hypothetiſch iſt der Unterſatz, der eine perma-
nente Seelenkraft als unbedingt nothwendig vor-
ausſetzt. Die Seele wird und vergeht in jedem
Moment, wie der Körper wird und vergeht und
doch derſelbe bleibt Nur wenn wir Vorſtellun-

H 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0120" n="115"/>
Vertheilung &#x017F;einer Kräfte gegründet und durch<lb/>
das Auffa&#x017F;&#x017F;en be&#x017F;timmter Objekte im Selb&#x017F;tbe-<lb/>
wu&#x017F;st&#x017F;eyn und der Be&#x017F;onnenheit angekündiget<lb/>
wird. Sobald dies Verhältni&#x017F;s der dynami&#x017F;chen<lb/>
Temperatur im Seelenorgan wankt, &#x017F;o wankt<lb/>
auch die normale Receptivität für äu&#x017F;sere Gegen-<lb/>
&#x017F;tände; es weicht die Ausbreitung der bewirkten<lb/>
Erregungen ab von den Ge&#x017F;etzen der A&#x017F;&#x017F;ociation.<lb/>
Die Angel der Verbindung i&#x017F;t abgezogen, ein-<lb/>
zelne Getriebe wirken für &#x017F;ich, Nebel&#x017F;terne drin-<lb/>
gen aus der Tiefe zur Klarheit hervor, und es<lb/>
wird in uns eine Welt &#x017F;ichtbar, von der wir nicht<lb/>
ahndeten, da&#x017F;s &#x017F;ie in uns vorhanden &#x017F;ey.</p><lb/>
          <p>Was &#x017F;ind <hi rendition="#g">dunkele Vor&#x017F;tellungen,<lb/>
Vor&#x017F;tellungen ohne Bewu&#x017F;st&#x017F;eyn</hi>? Chi-<lb/>
mären. Doch haben <hi rendition="#g">Leibnitzens</hi> Anhänger<lb/>
ihr Da&#x017F;eyn &#x017F;ogar durch Schlü&#x017F;&#x017F;e bewie&#x017F;en. &#x201E;Eine<lb/>
Kraft, &#x017F;agen &#x017F;ie, &#x017F;ey ohne Thätigkeit nicht ge-<lb/>
denkbar, da ihr We&#x017F;en im Wirken be&#x017F;tehe. Nun<lb/>
äu&#x017F;sere &#x017F;ich das Seelenvermögen durch Vor&#x017F;tel-<lb/>
len; es mü&#x017F;&#x017F;e al&#x017F;o auch im Schlafe vor&#x017F;tellen.<lb/>
Weil wir uns aber de&#x017F;&#x017F;en nicht bewu&#x017F;st &#x017F;ind, &#x017F;o<lb/>
folge daraus, da&#x017F;s wir <hi rendition="#g">im Schlafe Vor&#x017F;tel-<lb/>
lungen ohne Bewu&#x017F;st&#x017F;eyn haben mü&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en</hi>.&#x201C; So richtig der Ober&#x017F;atz &#x017F;eyn mag, &#x017F;o<lb/>
hypotheti&#x017F;ch i&#x017F;t der Unter&#x017F;atz, der eine perma-<lb/>
nente Seelenkraft als unbedingt nothwendig vor-<lb/>
aus&#x017F;etzt. Die Seele wird und vergeht in jedem<lb/>
Moment, wie der Körper wird und vergeht und<lb/>
doch der&#x017F;elbe bleibt Nur wenn wir Vor&#x017F;tellun-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 2</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[115/0120] Vertheilung ſeiner Kräfte gegründet und durch das Auffaſſen beſtimmter Objekte im Selbſtbe- wuſstſeyn und der Beſonnenheit angekündiget wird. Sobald dies Verhältniſs der dynamiſchen Temperatur im Seelenorgan wankt, ſo wankt auch die normale Receptivität für äuſsere Gegen- ſtände; es weicht die Ausbreitung der bewirkten Erregungen ab von den Geſetzen der Aſſociation. Die Angel der Verbindung iſt abgezogen, ein- zelne Getriebe wirken für ſich, Nebelſterne drin- gen aus der Tiefe zur Klarheit hervor, und es wird in uns eine Welt ſichtbar, von der wir nicht ahndeten, daſs ſie in uns vorhanden ſey. Was ſind dunkele Vorſtellungen, Vorſtellungen ohne Bewuſstſeyn? Chi- mären. Doch haben Leibnitzens Anhänger ihr Daſeyn ſogar durch Schlüſſe bewieſen. „Eine Kraft, ſagen ſie, ſey ohne Thätigkeit nicht ge- denkbar, da ihr Weſen im Wirken beſtehe. Nun äuſsere ſich das Seelenvermögen durch Vorſtel- len; es müſſe alſo auch im Schlafe vorſtellen. Weil wir uns aber deſſen nicht bewuſst ſind, ſo folge daraus, daſs wir im Schlafe Vorſtel- lungen ohne Bewuſstſeyn haben müſ- ſen.“ So richtig der Oberſatz ſeyn mag, ſo hypothetiſch iſt der Unterſatz, der eine perma- nente Seelenkraft als unbedingt nothwendig vor- ausſetzt. Die Seele wird und vergeht in jedem Moment, wie der Körper wird und vergeht und doch derſelbe bleibt Nur wenn wir Vorſtellun- H 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/120
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/120>, abgerufen am 23.11.2024.