Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803.

Bild:
<< vorherige Seite

ihn gegenwärtig fesselt. Beide fassen daher die
Eindrücke nicht auf, die sie nach ihrer gegenwär-
tigen Lage auffassen sollten. Doch kann der
Mensch beides zugleich, zerstreut und vertieft
seyn. Er ist eingeschränkt auf einen gewissen Be-
zirk von Gegenständen, fasst aber innerhalb des-
selben nirgends festen Fuss. Zuletzt veranlasst
ihn dieser Zustand, in dem er seines Zwecks ver-
fehlt, über die Grenze zu treten, und führt als-
denn zur unbegrenzten Zerstreuung.

§. 11.

Aufmerksamkeit ist das Vermö-
gen der Seele, ihre Kraft willkühr-
lich an den Gegenstand zu fesseln, der
durch die Besonnenheit angemerkt
und aus der Menge zum klaren Be-
wusstseyn ausgehoben ist
. Die Beson-
nenheit lässt den Gegenstand wieder fahren, wenn
er ohne Werth ist. Erst durch die Aufmerksam-
keit, die die Kraft der Seele auf einen festen
Punkt anheftet, wird sie consolidirt. Dies ge-
schicht nach einem freien Entschluss, der sich
entweder auf Genuss der Lust, oder auf die Er-
reichung eines moralischen Zwecks gründet. Je-
ner zieht sanft an, diese fesselt uns, auch wenn
es uns Mühe macht. Die Lust wirkt stärker,
und am stärksten in der Jugend. Das Alter ist
schwach an Verstand und liebt die Ruhe. Daher
beherrschen wir unsere Aufmerksamkeit in den

ihn gegenwärtig feſſelt. Beide faſſen daher die
Eindrücke nicht auf, die ſie nach ihrer gegenwär-
tigen Lage auffaſſen ſollten. Doch kann der
Menſch beides zugleich, zerſtreut und vertieft
ſeyn. Er iſt eingeſchränkt auf einen gewiſſen Be-
zirk von Gegenſtänden, faſst aber innerhalb deſ-
ſelben nirgends feſten Fuſs. Zuletzt veranlaſst
ihn dieſer Zuſtand, in dem er ſeines Zwecks ver-
fehlt, über die Grenze zu treten, und führt als-
denn zur unbegrenzten Zerſtreuung.

§. 11.

Aufmerkſamkeit iſt das Vermö-
gen der Seele, ihre Kraft willkühr-
lich an den Gegenſtand zu feſſeln, der
durch die Beſonnenheit angemerkt
und aus der Menge zum klaren Be-
wuſstſeyn ausgehoben iſt
. Die Beſon-
nenheit läſst den Gegenſtand wieder fahren, wenn
er ohne Werth iſt. Erſt durch die Aufmerkſam-
keit, die die Kraft der Seele auf einen feſten
Punkt anheftet, wird ſie conſolidirt. Dies ge-
ſchicht nach einem freien Entſchluſs, der ſich
entweder auf Genuſs der Luſt, oder auf die Er-
reichung eines moraliſchen Zwecks gründet. Je-
ner zieht ſanft an, dieſe feſſelt uns, auch wenn
es uns Mühe macht. Die Luſt wirkt ſtärker,
und am ſtärkſten in der Jugend. Das Alter iſt
ſchwach an Verſtand und liebt die Ruhe. Daher
beherrſchen wir unſere Aufmerkſamkeit in den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0115" n="110"/>
ihn gegenwärtig fe&#x017F;&#x017F;elt. Beide fa&#x017F;&#x017F;en daher die<lb/>
Eindrücke nicht auf, die &#x017F;ie nach ihrer gegenwär-<lb/>
tigen Lage auffa&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ollten. Doch kann der<lb/>
Men&#x017F;ch beides zugleich, zer&#x017F;treut und vertieft<lb/>
&#x017F;eyn. Er i&#x017F;t einge&#x017F;chränkt auf einen gewi&#x017F;&#x017F;en Be-<lb/>
zirk von Gegen&#x017F;tänden, fa&#x017F;st aber innerhalb de&#x017F;-<lb/>
&#x017F;elben nirgends fe&#x017F;ten Fu&#x017F;s. Zuletzt veranla&#x017F;st<lb/>
ihn die&#x017F;er Zu&#x017F;tand, in dem er &#x017F;eines Zwecks ver-<lb/>
fehlt, über die Grenze zu treten, und führt als-<lb/>
denn zur unbegrenzten Zer&#x017F;treuung.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>§. 11.</head><lb/>
          <p><hi rendition="#g">Aufmerk&#x017F;amkeit i&#x017F;t das Vermö-<lb/>
gen der Seele, ihre Kraft willkühr-<lb/>
lich an den Gegen&#x017F;tand zu fe&#x017F;&#x017F;eln, der<lb/>
durch die Be&#x017F;onnenheit angemerkt<lb/>
und aus der Menge zum klaren Be-<lb/>
wu&#x017F;st&#x017F;eyn ausgehoben i&#x017F;t</hi>. Die Be&#x017F;on-<lb/>
nenheit lä&#x017F;st den Gegen&#x017F;tand wieder fahren, wenn<lb/>
er ohne Werth i&#x017F;t. Er&#x017F;t durch die Aufmerk&#x017F;am-<lb/>
keit, die die Kraft der Seele auf einen fe&#x017F;ten<lb/>
Punkt anheftet, wird &#x017F;ie con&#x017F;olidirt. Dies ge-<lb/>
&#x017F;chicht nach einem freien Ent&#x017F;chlu&#x017F;s, der &#x017F;ich<lb/>
entweder auf Genu&#x017F;s der Lu&#x017F;t, oder auf die Er-<lb/>
reichung eines morali&#x017F;chen Zwecks gründet. Je-<lb/>
ner zieht &#x017F;anft an, die&#x017F;e fe&#x017F;&#x017F;elt uns, auch wenn<lb/>
es uns Mühe macht. Die Lu&#x017F;t wirkt &#x017F;tärker,<lb/>
und am &#x017F;tärk&#x017F;ten in der Jugend. Das Alter i&#x017F;t<lb/>
&#x017F;chwach an Ver&#x017F;tand und liebt die Ruhe. Daher<lb/>
beherr&#x017F;chen wir un&#x017F;ere Aufmerk&#x017F;amkeit in den<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[110/0115] ihn gegenwärtig feſſelt. Beide faſſen daher die Eindrücke nicht auf, die ſie nach ihrer gegenwär- tigen Lage auffaſſen ſollten. Doch kann der Menſch beides zugleich, zerſtreut und vertieft ſeyn. Er iſt eingeſchränkt auf einen gewiſſen Be- zirk von Gegenſtänden, faſst aber innerhalb deſ- ſelben nirgends feſten Fuſs. Zuletzt veranlaſst ihn dieſer Zuſtand, in dem er ſeines Zwecks ver- fehlt, über die Grenze zu treten, und führt als- denn zur unbegrenzten Zerſtreuung. §. 11. Aufmerkſamkeit iſt das Vermö- gen der Seele, ihre Kraft willkühr- lich an den Gegenſtand zu feſſeln, der durch die Beſonnenheit angemerkt und aus der Menge zum klaren Be- wuſstſeyn ausgehoben iſt. Die Beſon- nenheit läſst den Gegenſtand wieder fahren, wenn er ohne Werth iſt. Erſt durch die Aufmerkſam- keit, die die Kraft der Seele auf einen feſten Punkt anheftet, wird ſie conſolidirt. Dies ge- ſchicht nach einem freien Entſchluſs, der ſich entweder auf Genuſs der Luſt, oder auf die Er- reichung eines moraliſchen Zwecks gründet. Je- ner zieht ſanft an, dieſe feſſelt uns, auch wenn es uns Mühe macht. Die Luſt wirkt ſtärker, und am ſtärkſten in der Jugend. Das Alter iſt ſchwach an Verſtand und liebt die Ruhe. Daher beherrſchen wir unſere Aufmerkſamkeit in den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/115
Zitationshilfe: Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/115>, abgerufen am 23.11.2024.