noch einer natürlichen Anlage des Menschen, sich durch seine Phantasie zu zerstreuen, die zur Unbesonnenheit führt. Er lässt gerne seiner Ein- bildungskraft den Zügel schiessen, belustiget sich mit ihren Geschöpfen, hängt sich mit Wärme an dieselben und wünscht ihnen Objektivität. Allein die Besonnenheit weist ihn aus diesem Feenlande in seine natürlichen Verhältnisse zu- rück. Das Kind spielt den König und verleug- net seine Besonnenheit; der Narr hat sie verlo- ren, wenn er glaubt, es wirklich zu seyn. Dem Tiefsinnigen ist sie wie dem Unglücklichen zur Last, der sie für eine Zeitlang durch berauschende Getränke zu unterdrücken sucht. Der Hypo- chondrist hat zu viel, der Schwindsüchtige zu wenig Besonnenheit in Rücksicht des eignen Kör- pers. Jenen erschüttert der unbedeutendste Zufall; dieser speit jeden Augenblick seine aufgelösten Lungen aus und merkt es doch nicht, dass sie krank sind.
Der Nachtwandler hat eine Art äusserer Besonnenheit, besonders wenn er an fremden Oer- tern auftritt. Beim Anfange des Spiels befasst er die nächsten Objekte, um sich zu orientiren. Dann liegt der Ort mit allen Gegenständen, in richtigen Raumverhältnissen so lichthell in seiner Phantasie da, dass er alles vermeidet und alles ergreift, was ihm in den Weg kömmt. Das Bild des Orts in seiner Imagination ist dem wirk- lichen Ort so gleich und sein räumliches Verhält-
noch einer natürlichen Anlage des Menſchen, ſich durch ſeine Phantaſie zu zerſtreuen, die zur Unbeſonnenheit führt. Er läſst gerne ſeiner Ein- bildungskraft den Zügel ſchieſsen, beluſtiget ſich mit ihren Geſchöpfen, hängt ſich mit Wärme an dieſelben und wünſcht ihnen Objektivität. Allein die Beſonnenheit weiſt ihn aus dieſem Feenlande in ſeine natürlichen Verhältniſſe zu- rück. Das Kind ſpielt den König und verleug- net ſeine Beſonnenheit; der Narr hat ſie verlo- ren, wenn er glaubt, es wirklich zu ſeyn. Dem Tiefſinnigen iſt ſie wie dem Unglücklichen zur Laſt, der ſie für eine Zeitlang durch berauſchende Getränke zu unterdrücken ſucht. Der Hypo- chondriſt hat zu viel, der Schwindſüchtige zu wenig Beſonnenheit in Rückſicht des eignen Kör- pers. Jenen erſchüttert der unbedeutendſte Zufall; dieſer ſpeit jeden Augenblick ſeine aufgelöſten Lungen aus und merkt es doch nicht, daſs ſie krank ſind.
Der Nachtwandler hat eine Art äuſserer Beſonnenheit, beſonders wenn er an fremden Oer- tern auftritt. Beim Anfange des Spiels befaſst er die nächſten Objekte, um ſich zu orientiren. Dann liegt der Ort mit allen Gegenſtänden, in richtigen Raumverhältniſſen ſo lichthell in ſeiner Phantaſie da, daſs er alles vermeidet und alles ergreift, was ihm in den Weg kömmt. Das Bild des Orts in ſeiner Imagination iſt dem wirk- lichen Ort ſo gleich und ſein räumliches Verhält-
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noch einer natürlichen Anlage des Menſchen,
ſich durch ſeine Phantaſie zu zerſtreuen, die zur
Unbeſonnenheit führt. Er läſst gerne ſeiner Ein-
bildungskraft den Zügel ſchieſsen, beluſtiget ſich
mit ihren Geſchöpfen, hängt ſich mit Wärme
an dieſelben und wünſcht ihnen Objektivität.
Allein die Beſonnenheit weiſt ihn aus dieſem
Feenlande in ſeine natürlichen Verhältniſſe zu-
rück. Das Kind ſpielt den König und verleug-
net ſeine Beſonnenheit; der Narr hat ſie verlo-
ren, wenn er glaubt, es wirklich zu ſeyn. Dem
Tiefſinnigen iſt ſie wie dem Unglücklichen zur
Laſt, der ſie für eine Zeitlang durch berauſchende
Getränke zu unterdrücken ſucht. Der Hypo-
chondriſt hat zu viel, der Schwindſüchtige zu
wenig Beſonnenheit in Rückſicht des eignen Kör-
pers. Jenen erſchüttert der unbedeutendſte Zufall;
dieſer ſpeit jeden Augenblick ſeine aufgelöſten
Lungen aus und merkt es doch nicht, daſs ſie
krank ſind.
Der Nachtwandler hat eine Art äuſserer
Beſonnenheit, beſonders wenn er an fremden Oer-
tern auftritt. Beim Anfange des Spiels befaſst er
die nächſten Objekte, um ſich zu orientiren.
Dann liegt der Ort mit allen Gegenſtänden, in
richtigen Raumverhältniſſen ſo lichthell in ſeiner
Phantaſie da, daſs er alles vermeidet und alles
ergreift, was ihm in den Weg kömmt. Das
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/109>, abgerufen am 23.11.2024.
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