es an äusserer, als wenn es an innerer Besonnen- heit fehlt. Wer heute schon seiner gestrigen Vor- sätze uneingedenk ist, bleibt unbemerkt; nicht so derjenige, welcher das Taschentuch seiner Nachbarin für sein Hemde ansieht. Endlich setzt die Besonnenheit ein klares Bewusstseyn unseres Sitten- und Pflichtverhältnisses voraus, damit solche Eindrücke aufgefasset werden, die mit die- sen Verhältnissen in richtiger Beziehung stehn. Wir sind auf dem Wege der Narrheit, sobald es unserer Besonnenheit an dieser Beziehung fehlt, wir ihrer Anomalie nicht geständig sind, den Tadel unserer Nebenmenschen nicht achten oder uns wol gar in dem Zustande der Unbesonnenheit wohl gefallen. Diese Darstellung der verschie- denen Modifikationen der anomalen Besonnenheit leitet uns zugleich auf die Krankheiten der Or- ganisation, von welchen sie Symptome sind. Denn in derselben müssen wir ihre Krankheiten suchen. Menge und Mannichfaltigkeit der Reize können freilich auch die Besonnenheit überflü- geln. Aber dies ist nicht Krankheit, so lang es etwas Aeusseres bleibt, und keinen permanenten Fehler im Inneren zurücklässt. Ihre Krankhei- ten entstehn also bald von einer überspannten, bald von einer zu trägen Reizbarkeit des Seelen- organs, von Schwäche desselben, oder von einem ganz fehlerhaften Mechanismus des Nervenge- bäudes, vom Mangel oder von falscher Cul- tur der Seelen-Vermögen. Dann erwähne ich
es an äuſserer, als wenn es an innerer Beſonnen- heit fehlt. Wer heute ſchon ſeiner geſtrigen Vor- ſätze uneingedenk iſt, bleibt unbemerkt; nicht ſo derjenige, welcher das Taſchentuch ſeiner Nachbarin für ſein Hemde anſieht. Endlich ſetzt die Beſonnenheit ein klares Bewuſstſeyn unſeres Sitten- und Pflichtverhältniſſes voraus, damit ſolche Eindrücke aufgefaſſet werden, die mit die- ſen Verhältniſſen in richtiger Beziehung ſtehn. Wir ſind auf dem Wege der Narrheit, ſobald es unſerer Beſonnenheit an dieſer Beziehung fehlt, wir ihrer Anomalie nicht geſtändig ſind, den Tadel unſerer Nebenmenſchen nicht achten oder uns wol gar in dem Zuſtande der Unbeſonnenheit wohl gefallen. Dieſe Darſtellung der verſchie- denen Modifikationen der anomalen Beſonnenheit leitet uns zugleich auf die Krankheiten der Or- ganiſation, von welchen ſie Symptome ſind. Denn in derſelben müſſen wir ihre Krankheiten ſuchen. Menge und Mannichfaltigkeit der Reize können freilich auch die Beſonnenheit überflü- geln. Aber dies iſt nicht Krankheit, ſo lang es etwas Aeuſseres bleibt, und keinen permanenten Fehler im Inneren zurückläſst. Ihre Krankhei- ten entſtehn alſo bald von einer überſpannten, bald von einer zu trägen Reizbarkeit des Seelen- organs, von Schwäche deſſelben, oder von einem ganz fehlerhaften Mechaniſmus des Nervenge- bäudes, vom Mangel oder von falſcher Cul- tur der Seelen-Vermögen. Dann erwähne ich
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es an äuſserer, als wenn es an innerer Beſonnen-
heit fehlt. Wer heute ſchon ſeiner geſtrigen Vor-
ſätze uneingedenk iſt, bleibt unbemerkt; nicht
ſo derjenige, welcher das Taſchentuch ſeiner
Nachbarin für ſein Hemde anſieht. Endlich ſetzt
die Beſonnenheit ein klares Bewuſstſeyn unſeres
Sitten- und Pflichtverhältniſſes voraus, damit
ſolche Eindrücke aufgefaſſet werden, die mit die-
ſen Verhältniſſen in richtiger Beziehung ſtehn.
Wir ſind auf dem Wege der Narrheit, ſobald es
unſerer Beſonnenheit an dieſer Beziehung fehlt,
wir ihrer Anomalie nicht geſtändig ſind, den
Tadel unſerer Nebenmenſchen nicht achten oder
uns wol gar in dem Zuſtande der Unbeſonnenheit
wohl gefallen. Dieſe Darſtellung der verſchie-
denen Modifikationen der anomalen Beſonnenheit
leitet uns zugleich auf die Krankheiten der Or-
ganiſation, von welchen ſie Symptome ſind.
Denn in derſelben müſſen wir ihre Krankheiten
ſuchen. Menge und Mannichfaltigkeit der Reize
können freilich auch die Beſonnenheit überflü-
geln. Aber dies iſt nicht Krankheit, ſo lang es
etwas Aeuſseres bleibt, und keinen permanenten
Fehler im Inneren zurückläſst. Ihre Krankhei-
ten entſtehn alſo bald von einer überſpannten,
bald von einer zu trägen Reizbarkeit des Seelen-
organs, von Schwäche deſſelben, oder von einem
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bäudes, vom Mangel oder von falſcher Cul-
tur der Seelen-Vermögen. Dann erwähne ich
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/108>, abgerufen am 23.11.2024.
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