einer Kanone, das Krachen des Donners und die Amputation eines Gliedes erregt auch die trägste Besonnenheit. Nicht leicht werden wir wie Semler und Archimedes in unsern Medi- tationen beharren, wenn das Haus brennt oder der Feind in die Stadt eingedrungen ist. Den Jüngling arretirt mitten in den ernsthaftesten Ge- schäfften eine lebendige, den Künstler eine todte Figur; der Correktor vergisst den Sinn der Schrift, wenn er einen Druckfehler, der Gram- matiker, wenn er einen Schnitzer in der Wort- fügung ansichtig wird *). Doch müssen diese Idiosyncrasieen ihre Grenze haben, wenn die Besonnenheit innerhalb der Norm bleiben; ihr muss eine Aufmerksamkeit zur Seite stehn, die durch ein verständiges Interesse geleitet wird, wenn sie als Mittel zur Glückseligkeit wirken soll.
Die Besonnenheit kann auf mancherley Art von der Norm abweichen. Ist die Reizbarkeit des Seelenorgans zu stumpf, so schleichen schwa- che Eindrücke unbemerkt vorüber; ist sie zu zart, so entsteht Flatterhaftigkeit, und Kleinig- keiten fesseln uns, in Beziehung auf ernsthafte Gegenstände. Bald fehlt es an äusserer, bald an innerer Besonnenheit, oder beide stehn nicht mit einander in gehöriger Wechselwirkung. Doch kann man sich eher aus dem Handel ziehn, wenn
*)Hoffbauer l. c. 1 Th. 5 - 31 S.
einer Kanone, das Krachen des Donners und die Amputation eines Gliedes erregt auch die trägſte Beſonnenheit. Nicht leicht werden wir wie Semler und Archimedes in unſern Medi- tationen beharren, wenn das Haus brennt oder der Feind in die Stadt eingedrungen iſt. Den Jüngling arretirt mitten in den ernſthafteſten Ge- ſchäfften eine lebendige, den Künſtler eine todte Figur; der Correktor vergiſst den Sinn der Schrift, wenn er einen Druckfehler, der Gram- matiker, wenn er einen Schnitzer in der Wort- fügung anſichtig wird *). Doch müſſen dieſe Idioſyncraſieen ihre Grenze haben, wenn die Beſonnenheit innerhalb der Norm bleiben; ihr muſs eine Aufmerkſamkeit zur Seite ſtehn, die durch ein verſtändiges Intereſſe geleitet wird, wenn ſie als Mittel zur Glückſeligkeit wirken ſoll.
Die Beſonnenheit kann auf mancherley Art von der Norm abweichen. Iſt die Reizbarkeit des Seelenorgans zu ſtumpf, ſo ſchleichen ſchwa- che Eindrücke unbemerkt vorüber; iſt ſie zu zart, ſo entſteht Flatterhaftigkeit, und Kleinig- keiten feſſeln uns, in Beziehung auf ernſthafte Gegenſtände. Bald fehlt es an äuſserer, bald an innerer Beſonnenheit, oder beide ſtehn nicht mit einander in gehöriger Wechſelwirkung. Doch kann man ſich eher aus dem Handel ziehn, wenn
*)Hoffbauer l. c. 1 Th. 5 ‒ 31 S.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0107"n="102"/>
einer Kanone, das Krachen des Donners und die<lb/>
Amputation eines Gliedes erregt auch die trägſte<lb/>
Beſonnenheit. Nicht leicht werden wir wie<lb/><hirendition="#g">Semler</hi> und <hirendition="#g">Archimedes</hi> in unſern Medi-<lb/>
tationen beharren, wenn das Haus brennt oder<lb/>
der Feind in die Stadt eingedrungen iſt. Den<lb/>
Jüngling arretirt mitten in den ernſthafteſten Ge-<lb/>ſchäfften eine lebendige, den Künſtler eine todte<lb/>
Figur; der Correktor vergiſst den Sinn der<lb/>
Schrift, wenn er einen Druckfehler, der Gram-<lb/>
matiker, wenn er einen Schnitzer in der Wort-<lb/>
fügung anſichtig wird <noteplace="foot"n="*)"><hirendition="#g">Hoffbauer</hi> l. c. 1 Th. 5 ‒ 31 S.</note>. Doch müſſen dieſe<lb/>
Idioſyncraſieen ihre Grenze haben, wenn die<lb/>
Beſonnenheit innerhalb der Norm bleiben; ihr<lb/>
muſs eine Aufmerkſamkeit zur Seite ſtehn, die<lb/>
durch ein verſtändiges Intereſſe geleitet wird,<lb/>
wenn ſie als Mittel zur Glückſeligkeit wirken<lb/>ſoll.</p><lb/><p>Die Beſonnenheit kann auf mancherley Art<lb/>
von der Norm abweichen. Iſt die Reizbarkeit<lb/>
des Seelenorgans zu ſtumpf, ſo ſchleichen ſchwa-<lb/>
che Eindrücke unbemerkt vorüber; iſt ſie zu<lb/>
zart, ſo entſteht Flatterhaftigkeit, und Kleinig-<lb/>
keiten feſſeln uns, in Beziehung auf ernſthafte<lb/>
Gegenſtände. Bald fehlt es an äuſserer, bald an<lb/>
innerer Beſonnenheit, oder beide ſtehn nicht mit<lb/>
einander in gehöriger Wechſelwirkung. Doch<lb/>
kann man ſich eher aus dem Handel ziehn, wenn<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[102/0107]
einer Kanone, das Krachen des Donners und die
Amputation eines Gliedes erregt auch die trägſte
Beſonnenheit. Nicht leicht werden wir wie
Semler und Archimedes in unſern Medi-
tationen beharren, wenn das Haus brennt oder
der Feind in die Stadt eingedrungen iſt. Den
Jüngling arretirt mitten in den ernſthafteſten Ge-
ſchäfften eine lebendige, den Künſtler eine todte
Figur; der Correktor vergiſst den Sinn der
Schrift, wenn er einen Druckfehler, der Gram-
matiker, wenn er einen Schnitzer in der Wort-
fügung anſichtig wird *). Doch müſſen dieſe
Idioſyncraſieen ihre Grenze haben, wenn die
Beſonnenheit innerhalb der Norm bleiben; ihr
muſs eine Aufmerkſamkeit zur Seite ſtehn, die
durch ein verſtändiges Intereſſe geleitet wird,
wenn ſie als Mittel zur Glückſeligkeit wirken
ſoll.
Die Beſonnenheit kann auf mancherley Art
von der Norm abweichen. Iſt die Reizbarkeit
des Seelenorgans zu ſtumpf, ſo ſchleichen ſchwa-
che Eindrücke unbemerkt vorüber; iſt ſie zu
zart, ſo entſteht Flatterhaftigkeit, und Kleinig-
keiten feſſeln uns, in Beziehung auf ernſthafte
Gegenſtände. Bald fehlt es an äuſserer, bald an
innerer Beſonnenheit, oder beide ſtehn nicht mit
einander in gehöriger Wechſelwirkung. Doch
kann man ſich eher aus dem Handel ziehn, wenn
*) Hoffbauer l. c. 1 Th. 5 ‒ 31 S.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/107>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.