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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 5. Berlin, 1843.

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Kirchenlied.
Texte hatten eine besondere Kraft die Musiker anzuregen:
zu dem Magnificat finden sich vier verschiedene Weisen, alle
gleich trefflich. Und hieran knüpfte sich die kunstgerechte
Ausbildung des Chorals. Das Unächte und Überladene,
das sich der frühern Musik beigesellt hatte, ward ausgesto-
ßen: man bemühte sich nur die Grundtonart streng und har-
monisch zu entfalten; 1 die evangelische Gesinnung gewann
im Reich der Töne Ausdruck und Darstellung.

Gewiß schloß man sich auch hier an das Vorhandene
an: es hat Kirchenlieder vor Luther gegeben, die neue Mu-
sik gründete sich auf die alten Gesänge der lateinischen Kirche;
aber alles athmete doch einen neuen Geist. So beruhte sei-
nerseits auch der gregorianische Gesang auf den Grundsätzen
der antiken Kunstübung.

Eben darin liegt die Eigenthümlichkeit der ganzen Be-
wegung, daß sie das Conventionelle, Abgestorbene, oder doch
nicht zu weiterem Leben zu Entwickelnde von sich stieß, und
dagegen die lebensfähigen Momente der überlieferten Cultur
unter dem Anhauch eines frischen Geistes, der nach wirklicher
Erkenntniß strebte, zu weiterer Entfaltung brachte.

Dadurch ward sie selbst ein wesentliches Glied des uni-
versalhistorischen Fortschrittes, der die Jahrhunderte und Na-
tionen mit einander verbindet.

In keiner andern Nation wäre dieß so bedeutend ge-
wesen wie in der deutschen.

Die romanischen Völker beruhten doch noch, der Haupt-
sache nach, auf den Stämmen, von denen die Herrlichkeit des
Alterthums ausgegangen: in Italien sah man die alte Welt

1 Winterfeld, der evangelische Kirchengesang.

Kirchenlied.
Texte hatten eine beſondere Kraft die Muſiker anzuregen:
zu dem Magnificat finden ſich vier verſchiedene Weiſen, alle
gleich trefflich. Und hieran knüpfte ſich die kunſtgerechte
Ausbildung des Chorals. Das Unächte und Überladene,
das ſich der frühern Muſik beigeſellt hatte, ward ausgeſto-
ßen: man bemühte ſich nur die Grundtonart ſtreng und har-
moniſch zu entfalten; 1 die evangeliſche Geſinnung gewann
im Reich der Töne Ausdruck und Darſtellung.

Gewiß ſchloß man ſich auch hier an das Vorhandene
an: es hat Kirchenlieder vor Luther gegeben, die neue Mu-
ſik gründete ſich auf die alten Geſänge der lateiniſchen Kirche;
aber alles athmete doch einen neuen Geiſt. So beruhte ſei-
nerſeits auch der gregorianiſche Geſang auf den Grundſätzen
der antiken Kunſtübung.

Eben darin liegt die Eigenthümlichkeit der ganzen Be-
wegung, daß ſie das Conventionelle, Abgeſtorbene, oder doch
nicht zu weiterem Leben zu Entwickelnde von ſich ſtieß, und
dagegen die lebensfähigen Momente der überlieferten Cultur
unter dem Anhauch eines friſchen Geiſtes, der nach wirklicher
Erkenntniß ſtrebte, zu weiterer Entfaltung brachte.

Dadurch ward ſie ſelbſt ein weſentliches Glied des uni-
verſalhiſtoriſchen Fortſchrittes, der die Jahrhunderte und Na-
tionen mit einander verbindet.

In keiner andern Nation wäre dieß ſo bedeutend ge-
weſen wie in der deutſchen.

Die romaniſchen Völker beruhten doch noch, der Haupt-
ſache nach, auf den Stämmen, von denen die Herrlichkeit des
Alterthums ausgegangen: in Italien ſah man die alte Welt

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[499/0511] Kirchenlied. Texte hatten eine beſondere Kraft die Muſiker anzuregen: zu dem Magnificat finden ſich vier verſchiedene Weiſen, alle gleich trefflich. Und hieran knüpfte ſich die kunſtgerechte Ausbildung des Chorals. Das Unächte und Überladene, das ſich der frühern Muſik beigeſellt hatte, ward ausgeſto- ßen: man bemühte ſich nur die Grundtonart ſtreng und har- moniſch zu entfalten; 1 die evangeliſche Geſinnung gewann im Reich der Töne Ausdruck und Darſtellung. Gewiß ſchloß man ſich auch hier an das Vorhandene an: es hat Kirchenlieder vor Luther gegeben, die neue Mu- ſik gründete ſich auf die alten Geſänge der lateiniſchen Kirche; aber alles athmete doch einen neuen Geiſt. So beruhte ſei- nerſeits auch der gregorianiſche Geſang auf den Grundſätzen der antiken Kunſtübung. Eben darin liegt die Eigenthümlichkeit der ganzen Be- wegung, daß ſie das Conventionelle, Abgeſtorbene, oder doch nicht zu weiterem Leben zu Entwickelnde von ſich ſtieß, und dagegen die lebensfähigen Momente der überlieferten Cultur unter dem Anhauch eines friſchen Geiſtes, der nach wirklicher Erkenntniß ſtrebte, zu weiterer Entfaltung brachte. Dadurch ward ſie ſelbſt ein weſentliches Glied des uni- verſalhiſtoriſchen Fortſchrittes, der die Jahrhunderte und Na- tionen mit einander verbindet. In keiner andern Nation wäre dieß ſo bedeutend ge- weſen wie in der deutſchen. Die romaniſchen Völker beruhten doch noch, der Haupt- ſache nach, auf den Stämmen, von denen die Herrlichkeit des Alterthums ausgegangen: in Italien ſah man die alte Welt 1 Winterfeld, der evangeliſche Kirchengeſang.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 5. Berlin, 1843, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation05_1843/511>, abgerufen am 24.11.2024.