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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 5. Berlin, 1843.

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Zehntes Buch. Achtes Capitel.
der Christenheit befördert werden würde: niemals seyen die
Griechen von ihnen verstanden worden; ihre Theorien und
ihre Heilmittel seyen gleich verwerflich; er seinerseits werde
nicht aufhören gegen diese Saracenen zu streiten.

Nun konnte man sich aber in der Medicin unmöglich
wie in der Jurisprudenz an die hergestellten Texte halten:
man ward durch die Alten selbst zu eigener Beobachtung der
Natur fortgetrieben; nur auf eine ganz andre Weise als Pa-
racelsus im Sinn gehabt, eben auf dem von den Alten an-
gebahnten, noch nicht vollendeten Wege.

Die ersten wichtigen Erfolge erlangte man in der Ana-
tomie, nachdem man sich einmal der Vorurtheile entschlagen,
die bisher eine genügende Untersuchung des menschlichen Kör-
pers verhindert hatten. Es war eine auffallende Neuerung,
daß Dr Augustin Schurf in Wittenberg im Juli 1526 die
Anatomie eines Kopfes vornahm. Etwas Ähnliches ver-
suchte ein andrer Deutscher, Johann Günther von Ander-
nach, zu Paris, doch wollte er weder von den Arabern noch
vollends von Galen lassen. Einer seiner Schüler aber, An-
dreas Vesalius, aus einer Familie von Ärzten die von We-
sel herstammten, geboren in Brüssel, that endlich den ent-
scheidenden Schritt. Vesalius war gleichsam von Natur zum
Anatomen bestimmt: von Kindheit auf hatte er sich halb aus
Muthwillen an Thieren geübt; in Paris trieb er sich mit
Lebensgefahr auf dem Kirchhof des Innocents oder den Hö-
hen von Montfaucon herum, um aus den Gebeinen die er
auflas, wo möglich ein ganzes Skelett zusammenzusetzen.
Eben daran hatte es Galen gefehlt, und bald wurde der
muthige junge Mann die Irrthümer des alten Meisters inne.

Zehntes Buch. Achtes Capitel.
der Chriſtenheit befördert werden würde: niemals ſeyen die
Griechen von ihnen verſtanden worden; ihre Theorien und
ihre Heilmittel ſeyen gleich verwerflich; er ſeinerſeits werde
nicht aufhören gegen dieſe Saracenen zu ſtreiten.

Nun konnte man ſich aber in der Medicin unmöglich
wie in der Jurisprudenz an die hergeſtellten Texte halten:
man ward durch die Alten ſelbſt zu eigener Beobachtung der
Natur fortgetrieben; nur auf eine ganz andre Weiſe als Pa-
racelſus im Sinn gehabt, eben auf dem von den Alten an-
gebahnten, noch nicht vollendeten Wege.

Die erſten wichtigen Erfolge erlangte man in der Ana-
tomie, nachdem man ſich einmal der Vorurtheile entſchlagen,
die bisher eine genügende Unterſuchung des menſchlichen Kör-
pers verhindert hatten. Es war eine auffallende Neuerung,
daß Dr Auguſtin Schurf in Wittenberg im Juli 1526 die
Anatomie eines Kopfes vornahm. Etwas Ähnliches ver-
ſuchte ein andrer Deutſcher, Johann Günther von Ander-
nach, zu Paris, doch wollte er weder von den Arabern noch
vollends von Galen laſſen. Einer ſeiner Schüler aber, An-
dreas Veſalius, aus einer Familie von Ärzten die von We-
ſel herſtammten, geboren in Brüſſel, that endlich den ent-
ſcheidenden Schritt. Veſalius war gleichſam von Natur zum
Anatomen beſtimmt: von Kindheit auf hatte er ſich halb aus
Muthwillen an Thieren geübt; in Paris trieb er ſich mit
Lebensgefahr auf dem Kirchhof des Innocents oder den Hö-
hen von Montfaucon herum, um aus den Gebeinen die er
auflas, wo möglich ein ganzes Skelett zuſammenzuſetzen.
Eben daran hatte es Galen gefehlt, und bald wurde der
muthige junge Mann die Irrthümer des alten Meiſters inne.

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[478/0490] Zehntes Buch. Achtes Capitel. der Chriſtenheit befördert werden würde: niemals ſeyen die Griechen von ihnen verſtanden worden; ihre Theorien und ihre Heilmittel ſeyen gleich verwerflich; er ſeinerſeits werde nicht aufhören gegen dieſe Saracenen zu ſtreiten. Nun konnte man ſich aber in der Medicin unmöglich wie in der Jurisprudenz an die hergeſtellten Texte halten: man ward durch die Alten ſelbſt zu eigener Beobachtung der Natur fortgetrieben; nur auf eine ganz andre Weiſe als Pa- racelſus im Sinn gehabt, eben auf dem von den Alten an- gebahnten, noch nicht vollendeten Wege. Die erſten wichtigen Erfolge erlangte man in der Ana- tomie, nachdem man ſich einmal der Vorurtheile entſchlagen, die bisher eine genügende Unterſuchung des menſchlichen Kör- pers verhindert hatten. Es war eine auffallende Neuerung, daß Dr Auguſtin Schurf in Wittenberg im Juli 1526 die Anatomie eines Kopfes vornahm. Etwas Ähnliches ver- ſuchte ein andrer Deutſcher, Johann Günther von Ander- nach, zu Paris, doch wollte er weder von den Arabern noch vollends von Galen laſſen. Einer ſeiner Schüler aber, An- dreas Veſalius, aus einer Familie von Ärzten die von We- ſel herſtammten, geboren in Brüſſel, that endlich den ent- ſcheidenden Schritt. Veſalius war gleichſam von Natur zum Anatomen beſtimmt: von Kindheit auf hatte er ſich halb aus Muthwillen an Thieren geübt; in Paris trieb er ſich mit Lebensgefahr auf dem Kirchhof des Innocents oder den Hö- hen von Montfaucon herum, um aus den Gebeinen die er auflas, wo möglich ein ganzes Skelett zuſammenzuſetzen. Eben daran hatte es Galen gefehlt, und bald wurde der muthige junge Mann die Irrthümer des alten Meiſters inne.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 5. Berlin, 1843, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation05_1843/490>, abgerufen am 25.11.2024.