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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 3. Berlin, 1840.

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Sechstes Buch. Neuntes Capitel.
Gastmahlen saßen die beiden Geschlechter -- Brüder und
Schwestern -- von einander abgesondert; schweigend aßen
sie, während ein Capitel der Bibel verlesen wurde. 1

Es liegt am Tage, daß ein so höchst eigenthümliches
Gemeinwesen nicht mit den Formen einer Stadtverwal-
tung, selbst nicht einer solchen, bei der Bürgermeister und
Rathsherren Erleuchtete waren, bestehen konnte. Der Pro-
phet Jan Matthys, der die Einrichtungen traf, gelangte
auch sehr bald in Besitz einer höchsten Autorität. Die
Zeitgenossen schildern diese als wahrhaft königlich, unbe-
dingt. 2 Aber schon gegen Ostern 1534 kam Matthys um
Bei einem Ausfall, wo er voran war, denn sein Fanatis-
mus war wenigstens nicht feige, wurde er getödtet.

Mit ihm war, wie berührt, Jan Bockelsohn, genannt
von Leiden, nach Münster gekommen, Sohn eines Schul-
zen im Haag 3 und einer leibeigenen Westfälin, die dann
von ihrem Mann losgekauft worden. Als Schneidergeselle

1 Kersenbroik fol. 218: Ordinatio politici regiminis a 12
senioribus recens introducta. § 9. ut in cibis administrandis le-
gitimus servetur ordo, praefecti ejus rei officii sui memores ejus-
dem generis fercula uti hactenus fieri consuevit singulis diebus
fratribus sororibusque in disjunctis et disparatis mensis modeste
et cum verecundia sedentibus apponent.
Es scheint wohl, als ob
sich dieß vorzugsweise auf die bei der Vertheidigung Beschäftigten
bezogen habe.
2 Hortensius p. 301. Joannes Matthias hanc autoritatem
sibi pararat, ut unus jam inde supra leges esset, unus scisceret,
juberetque quae viderentur, antiquaret, abrogaret leges, aliasque
pro libidine conderet.
3 Bekenntnisse Jan Bockelson's: "syn Vater genannt Bockel
und ist ein Schulte gewesen bynnen Sevenhagen. Soll wohl hei-
ßen: Grevenhagen, wie ihn denn auch Kersenbroik Prätor in Gre-
venhagen nennt; die Mutter war eine Leibeigne der Schedelich, aus
Zolke im Amte Dodorf im Münsterschen.

Sechstes Buch. Neuntes Capitel.
Gaſtmahlen ſaßen die beiden Geſchlechter — Brüder und
Schweſtern — von einander abgeſondert; ſchweigend aßen
ſie, während ein Capitel der Bibel verleſen wurde. 1

Es liegt am Tage, daß ein ſo höchſt eigenthümliches
Gemeinweſen nicht mit den Formen einer Stadtverwal-
tung, ſelbſt nicht einer ſolchen, bei der Bürgermeiſter und
Rathsherren Erleuchtete waren, beſtehen konnte. Der Pro-
phet Jan Matthys, der die Einrichtungen traf, gelangte
auch ſehr bald in Beſitz einer höchſten Autorität. Die
Zeitgenoſſen ſchildern dieſe als wahrhaft königlich, unbe-
dingt. 2 Aber ſchon gegen Oſtern 1534 kam Matthys um
Bei einem Ausfall, wo er voran war, denn ſein Fanatis-
mus war wenigſtens nicht feige, wurde er getödtet.

Mit ihm war, wie berührt, Jan Bockelſohn, genannt
von Leiden, nach Münſter gekommen, Sohn eines Schul-
zen im Haag 3 und einer leibeigenen Weſtfälin, die dann
von ihrem Mann losgekauft worden. Als Schneidergeſelle

1 Kersenbroik fol. 218: Ordinatio politici regiminis a 12
senioribus recens introducta. § 9. ut in cibis administrandis le-
gitimus servetur ordo, praefecti ejus rei officii sui memores ejus-
dem generis fercula uti hactenus fieri consuevit singulis diebus
fratribus sororibusque in disjunctis et disparatis mensis modeste
et cum verecundia sedentibus apponent.
Es ſcheint wohl, als ob
ſich dieß vorzugsweiſe auf die bei der Vertheidigung Beſchaͤftigten
bezogen habe.
2 Hortensius p. 301. Joannes Matthias hanc autoritatem
sibi pararat, ut unus jam inde supra leges esset, unus scisceret,
juberetque quae viderentur, antiquaret, abrogaret leges, aliasque
pro libidine conderet.
3 Bekenntniſſe Jan Bockelſon’s: „ſyn Vater genannt Bockel
und iſt ein Schulte geweſen bynnen Sevenhagen. Soll wohl hei-
ßen: Grevenhagen, wie ihn denn auch Kerſenbroik Praͤtor in Gre-
venhagen nennt; die Mutter war eine Leibeigne der Schedelich, aus
Zolke im Amte Dodorf im Muͤnſterſchen.
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[530/0546] Sechstes Buch. Neuntes Capitel. Gaſtmahlen ſaßen die beiden Geſchlechter — Brüder und Schweſtern — von einander abgeſondert; ſchweigend aßen ſie, während ein Capitel der Bibel verleſen wurde. 1 Es liegt am Tage, daß ein ſo höchſt eigenthümliches Gemeinweſen nicht mit den Formen einer Stadtverwal- tung, ſelbſt nicht einer ſolchen, bei der Bürgermeiſter und Rathsherren Erleuchtete waren, beſtehen konnte. Der Pro- phet Jan Matthys, der die Einrichtungen traf, gelangte auch ſehr bald in Beſitz einer höchſten Autorität. Die Zeitgenoſſen ſchildern dieſe als wahrhaft königlich, unbe- dingt. 2 Aber ſchon gegen Oſtern 1534 kam Matthys um Bei einem Ausfall, wo er voran war, denn ſein Fanatis- mus war wenigſtens nicht feige, wurde er getödtet. Mit ihm war, wie berührt, Jan Bockelſohn, genannt von Leiden, nach Münſter gekommen, Sohn eines Schul- zen im Haag 3 und einer leibeigenen Weſtfälin, die dann von ihrem Mann losgekauft worden. Als Schneidergeſelle 1 Kersenbroik fol. 218: Ordinatio politici regiminis a 12 senioribus recens introducta. § 9. ut in cibis administrandis le- gitimus servetur ordo, praefecti ejus rei officii sui memores ejus- dem generis fercula uti hactenus fieri consuevit singulis diebus fratribus sororibusque in disjunctis et disparatis mensis modeste et cum verecundia sedentibus apponent. Es ſcheint wohl, als ob ſich dieß vorzugsweiſe auf die bei der Vertheidigung Beſchaͤftigten bezogen habe. 2 Hortensius p. 301. Joannes Matthias hanc autoritatem sibi pararat, ut unus jam inde supra leges esset, unus scisceret, juberetque quae viderentur, antiquaret, abrogaret leges, aliasque pro libidine conderet. 3 Bekenntniſſe Jan Bockelſon’s: „ſyn Vater genannt Bockel und iſt ein Schulte geweſen bynnen Sevenhagen. Soll wohl hei- ßen: Grevenhagen, wie ihn denn auch Kerſenbroik Praͤtor in Gre- venhagen nennt; die Mutter war eine Leibeigne der Schedelich, aus Zolke im Amte Dodorf im Muͤnſterſchen.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation03_1840/546>, abgerufen am 25.11.2024.