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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 3. Berlin, 1840.

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Fünftes Buch. Achtes Capitel.
gegengesetzten Meinungen so wie in der Ueberlieferung an das
Volk bis zur Allgemeingültigkeit ausgebildet; kein Mensch
könnte sagen, daß ihm, wie er hier erscheint, etwas Sectireri-
sches beiwohne. Dabei blieb es, daß man sich den Ausbildun-
gen des Dogma's, welche in den letzten Jahrhunderten herr-
schend geworden, widersetzte; man war weit entfernt, auch
nur den Aussprüchen eines Kirchenvaters maaßgebende, be-
weisende Autorität zuzuschreiben; aber man war sich bewußt,
daß man sich von ihrer Auffassung nicht wesentlich entfernt
habe. Es giebt eine geheime Tradition, die sich nicht so-
wohl in Formeln ausspricht, als in der ursprünglichen Fas-
sung des Begriffes, welcher nicht immer alle die Nothwen-
digkeit hat, die ihm beizuwohnen scheint, und doch die in-
nere Thätigkeit des denkenden schaffenden Geistes beherrscht.
Man fühlte sehr wohl, daß man noch auf dem alten Grund
und Boden stand, wie er durch Augustinus befestigt wor-
den. Man hatte den Versuch gemacht, den Particularis-
mus zu durchbrechen, dessen Fesseln die lateinische Kirche
in den letzten Jahrhunderten sich hatte auflegen lassen, sein
Joch von sich zu werfen; man war ganz allein auf die
Schrift zurückgegangen, an deren Buchstaben man sich hielt.
Aber war nicht die Schrift lange Zeiträume hindurch auch
in der lateinischen Kirche eifrig studirt, als die Norm des
Glaubens betrachtet worden? War nicht vieles, was diese
Kirche annahm, wirklich in der Schrift gegründet? Daran
hielt man sich; das übrige ließ man fallen.

Ich wage nicht zu sagen, daß die augsburgische Con-
fession den reinen Inhalt der Schrift dogmatisch feststelle;
sie ist nur eine Zurückführung des in der lateinischen Kirche

Fuͤnftes Buch. Achtes Capitel.
gegengeſetzten Meinungen ſo wie in der Ueberlieferung an das
Volk bis zur Allgemeingültigkeit ausgebildet; kein Menſch
könnte ſagen, daß ihm, wie er hier erſcheint, etwas Sectireri-
ſches beiwohne. Dabei blieb es, daß man ſich den Ausbildun-
gen des Dogma’s, welche in den letzten Jahrhunderten herr-
ſchend geworden, widerſetzte; man war weit entfernt, auch
nur den Ausſprüchen eines Kirchenvaters maaßgebende, be-
weiſende Autorität zuzuſchreiben; aber man war ſich bewußt,
daß man ſich von ihrer Auffaſſung nicht weſentlich entfernt
habe. Es giebt eine geheime Tradition, die ſich nicht ſo-
wohl in Formeln ausſpricht, als in der urſprünglichen Faſ-
ſung des Begriffes, welcher nicht immer alle die Nothwen-
digkeit hat, die ihm beizuwohnen ſcheint, und doch die in-
nere Thätigkeit des denkenden ſchaffenden Geiſtes beherrſcht.
Man fühlte ſehr wohl, daß man noch auf dem alten Grund
und Boden ſtand, wie er durch Auguſtinus befeſtigt wor-
den. Man hatte den Verſuch gemacht, den Particularis-
mus zu durchbrechen, deſſen Feſſeln die lateiniſche Kirche
in den letzten Jahrhunderten ſich hatte auflegen laſſen, ſein
Joch von ſich zu werfen; man war ganz allein auf die
Schrift zurückgegangen, an deren Buchſtaben man ſich hielt.
Aber war nicht die Schrift lange Zeiträume hindurch auch
in der lateiniſchen Kirche eifrig ſtudirt, als die Norm des
Glaubens betrachtet worden? War nicht vieles, was dieſe
Kirche annahm, wirklich in der Schrift gegründet? Daran
hielt man ſich; das übrige ließ man fallen.

Ich wage nicht zu ſagen, daß die augsburgiſche Con-
feſſion den reinen Inhalt der Schrift dogmatiſch feſtſtelle;
ſie iſt nur eine Zurückführung des in der lateiniſchen Kirche

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[244/0260] Fuͤnftes Buch. Achtes Capitel. gegengeſetzten Meinungen ſo wie in der Ueberlieferung an das Volk bis zur Allgemeingültigkeit ausgebildet; kein Menſch könnte ſagen, daß ihm, wie er hier erſcheint, etwas Sectireri- ſches beiwohne. Dabei blieb es, daß man ſich den Ausbildun- gen des Dogma’s, welche in den letzten Jahrhunderten herr- ſchend geworden, widerſetzte; man war weit entfernt, auch nur den Ausſprüchen eines Kirchenvaters maaßgebende, be- weiſende Autorität zuzuſchreiben; aber man war ſich bewußt, daß man ſich von ihrer Auffaſſung nicht weſentlich entfernt habe. Es giebt eine geheime Tradition, die ſich nicht ſo- wohl in Formeln ausſpricht, als in der urſprünglichen Faſ- ſung des Begriffes, welcher nicht immer alle die Nothwen- digkeit hat, die ihm beizuwohnen ſcheint, und doch die in- nere Thätigkeit des denkenden ſchaffenden Geiſtes beherrſcht. Man fühlte ſehr wohl, daß man noch auf dem alten Grund und Boden ſtand, wie er durch Auguſtinus befeſtigt wor- den. Man hatte den Verſuch gemacht, den Particularis- mus zu durchbrechen, deſſen Feſſeln die lateiniſche Kirche in den letzten Jahrhunderten ſich hatte auflegen laſſen, ſein Joch von ſich zu werfen; man war ganz allein auf die Schrift zurückgegangen, an deren Buchſtaben man ſich hielt. Aber war nicht die Schrift lange Zeiträume hindurch auch in der lateiniſchen Kirche eifrig ſtudirt, als die Norm des Glaubens betrachtet worden? War nicht vieles, was dieſe Kirche annahm, wirklich in der Schrift gegründet? Daran hielt man ſich; das übrige ließ man fallen. Ich wage nicht zu ſagen, daß die augsburgiſche Con- feſſion den reinen Inhalt der Schrift dogmatiſch feſtſtelle; ſie iſt nur eine Zurückführung des in der lateiniſchen Kirche

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 244. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation03_1840/260>, abgerufen am 23.11.2024.