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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 3. Berlin, 1840.

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Abendmahlsstreitigkeit.
sie im Laufe des Jahrhunderts sich gebildet, ganz und gar
keinen Eindruck mehr; Abwandlungen, die an sich unschäd-
lich waren, an die sich aber der Mißbrauch geknüpft hatte,
verwarf er mit so durchgreifender Raschheit, wie den Miß-
brauch selbst; die ältesten Formen, in denen sich das christliche
Princip zuerst ausgesprochen, suchte er herzustellen: gewiß
auch Formen, und nicht das Wesen, aber die doch wie die
nächsten, so auch die reinsten und angemessensten waren.

Luther war bei alle seinem Eifer gegen den Papst, bei
aller seiner Abneigung gegen die weltliche Herrschaft der
Hierarchie, doch übrigens selbst in Lehre und Ritus so viel
als möglich conservativ, historisch gesinnt; er war tiefsin-
nig und von dem Mysterium durchdrungen; Zwingli war
bei weitem durchgreifender im Verwerfen und Umbilden,
den Bedürfnissen des täglichen Lebens zugewandt, nüchtern,
verständig.

Wäre Luther mit seinen Schülern allein geblieben, so
würde das reformirende Prinzip wohl sehr bald zur Sta-
bilität gelangt seyn, seine lebendig fortschreitende Kraft viel-
leicht bald eingebüßt haben. Daß Zwingli allein gewesen
wäre, kann man sich so eigentlich nicht denken. Wäre aber
eine Ansicht, wie die seine, ohne Luther emporgekommen, so
würde die Continuation der kirchenhistorischen Entwickelung
dadurch gewaltsam unterbrochen worden seyn.

So war es, wenn wir uns so weit erheben dürfen,
von der göttlichen Vorsehung bestimmt, daß beide Auffassun-
gen mit einander ihren Gang zu machen hatten. Sie wa-
ren neben einander jede an ihrer Stelle, jede mit einer ge-
wissen innern Nothwendigkeit entsprungen, sie gehörten zu-
sammen, ergänzten sich wechselsweise.


Abendmahlsſtreitigkeit.
ſie im Laufe des Jahrhunderts ſich gebildet, ganz und gar
keinen Eindruck mehr; Abwandlungen, die an ſich unſchäd-
lich waren, an die ſich aber der Mißbrauch geknüpft hatte,
verwarf er mit ſo durchgreifender Raſchheit, wie den Miß-
brauch ſelbſt; die älteſten Formen, in denen ſich das chriſtliche
Princip zuerſt ausgeſprochen, ſuchte er herzuſtellen: gewiß
auch Formen, und nicht das Weſen, aber die doch wie die
nächſten, ſo auch die reinſten und angemeſſenſten waren.

Luther war bei alle ſeinem Eifer gegen den Papſt, bei
aller ſeiner Abneigung gegen die weltliche Herrſchaft der
Hierarchie, doch übrigens ſelbſt in Lehre und Ritus ſo viel
als möglich conſervativ, hiſtoriſch geſinnt; er war tiefſin-
nig und von dem Myſterium durchdrungen; Zwingli war
bei weitem durchgreifender im Verwerfen und Umbilden,
den Bedürfniſſen des täglichen Lebens zugewandt, nüchtern,
verſtändig.

Wäre Luther mit ſeinen Schülern allein geblieben, ſo
würde das reformirende Prinzip wohl ſehr bald zur Sta-
bilität gelangt ſeyn, ſeine lebendig fortſchreitende Kraft viel-
leicht bald eingebüßt haben. Daß Zwingli allein geweſen
wäre, kann man ſich ſo eigentlich nicht denken. Wäre aber
eine Anſicht, wie die ſeine, ohne Luther emporgekommen, ſo
würde die Continuation der kirchenhiſtoriſchen Entwickelung
dadurch gewaltſam unterbrochen worden ſeyn.

So war es, wenn wir uns ſo weit erheben dürfen,
von der göttlichen Vorſehung beſtimmt, daß beide Auffaſſun-
gen mit einander ihren Gang zu machen hatten. Sie wa-
ren neben einander jede an ihrer Stelle, jede mit einer ge-
wiſſen innern Nothwendigkeit entſprungen, ſie gehörten zu-
ſammen, ergänzten ſich wechſelsweiſe.


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[89/0105] Abendmahlsſtreitigkeit. ſie im Laufe des Jahrhunderts ſich gebildet, ganz und gar keinen Eindruck mehr; Abwandlungen, die an ſich unſchäd- lich waren, an die ſich aber der Mißbrauch geknüpft hatte, verwarf er mit ſo durchgreifender Raſchheit, wie den Miß- brauch ſelbſt; die älteſten Formen, in denen ſich das chriſtliche Princip zuerſt ausgeſprochen, ſuchte er herzuſtellen: gewiß auch Formen, und nicht das Weſen, aber die doch wie die nächſten, ſo auch die reinſten und angemeſſenſten waren. Luther war bei alle ſeinem Eifer gegen den Papſt, bei aller ſeiner Abneigung gegen die weltliche Herrſchaft der Hierarchie, doch übrigens ſelbſt in Lehre und Ritus ſo viel als möglich conſervativ, hiſtoriſch geſinnt; er war tiefſin- nig und von dem Myſterium durchdrungen; Zwingli war bei weitem durchgreifender im Verwerfen und Umbilden, den Bedürfniſſen des täglichen Lebens zugewandt, nüchtern, verſtändig. Wäre Luther mit ſeinen Schülern allein geblieben, ſo würde das reformirende Prinzip wohl ſehr bald zur Sta- bilität gelangt ſeyn, ſeine lebendig fortſchreitende Kraft viel- leicht bald eingebüßt haben. Daß Zwingli allein geweſen wäre, kann man ſich ſo eigentlich nicht denken. Wäre aber eine Anſicht, wie die ſeine, ohne Luther emporgekommen, ſo würde die Continuation der kirchenhiſtoriſchen Entwickelung dadurch gewaltſam unterbrochen worden ſeyn. So war es, wenn wir uns ſo weit erheben dürfen, von der göttlichen Vorſehung beſtimmt, daß beide Auffaſſun- gen mit einander ihren Gang zu machen hatten. Sie wa- ren neben einander jede an ihrer Stelle, jede mit einer ge- wiſſen innern Nothwendigkeit entſprungen, ſie gehörten zu- ſammen, ergänzten ſich wechſelsweiſe.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 89. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation03_1840/105>, abgerufen am 22.11.2024.