ein merkwürdiges Zeugniß für die allgemeine Verbreitung des reformatorischen Geistes. Er klagt darüber daß sein Hörsaal veröde: kaum sechs Zuhörer zähle er noch und die seyen alle Franzosen; zugleich aber weiß er doch sein eignes wissenschaftliches Bemühen nicht anders zu bezeichnen, als indem er es mit den Bestrebungen Luthers vergleicht. Die Glossatoren der ächten Texte, mit denen er es zu thun hat, kommen ihm nicht anders vor, als die Scholastiker welche Luther bekämpft: er möchte das ursprüngliche römische Recht in seiner Reinheit wiederherstellen, wie Luther die Theolo- gie der Bibel.
Von allen andern Studien aber, welchen wäre ein ähnliches Bestreben nothwendiger gewesen als den histo- rischen? Da war ein unermeßlicher Stoff aufgesam- melt; aber die früheren Epochen verhüllte die noch im- mer in fortgehender Entwickelung begriffene gelehrte Fabel: die spätern kannte man nur höchst fragmentarisch, nach der Darstellung der jedes Mal siegreich gebliebenen Partei: die große kirchliche Fiction hatte die wichtigsten Theile ab- sichtlich verfälscht. Zu wahrhaft geistiger, lebendiger, zu- sammenhangender Auffassung war nicht zu gelangen: der Geist, den nach ächter Erkenntniß dürstet, schauderte doch vor diesen unbezwinglichen Massen. Einen Ver- such sie zu durchbrechen, machte eben in diesem Jahre Johann Aventin, ein Mann, der früher die literarische Richtung der Neuerung mittheilnehmend begleitet und sich jetzt der religiösen mit lebendigem Eifer hingab. Er ließ sich keine Mühe verdrießen, für seine bairische Chronik, die zugleich einen allgemein deutschen, ja universalhistorischen
Drittes Buch. Drittes Capitel.
ein merkwürdiges Zeugniß für die allgemeine Verbreitung des reformatoriſchen Geiſtes. Er klagt darüber daß ſein Hörſaal veröde: kaum ſechs Zuhörer zähle er noch und die ſeyen alle Franzoſen; zugleich aber weiß er doch ſein eignes wiſſenſchaftliches Bemühen nicht anders zu bezeichnen, als indem er es mit den Beſtrebungen Luthers vergleicht. Die Gloſſatoren der ächten Texte, mit denen er es zu thun hat, kommen ihm nicht anders vor, als die Scholaſtiker welche Luther bekämpft: er möchte das urſprüngliche römiſche Recht in ſeiner Reinheit wiederherſtellen, wie Luther die Theolo- gie der Bibel.
Von allen andern Studien aber, welchen wäre ein ähnliches Beſtreben nothwendiger geweſen als den hiſto- riſchen? Da war ein unermeßlicher Stoff aufgeſam- melt; aber die früheren Epochen verhüllte die noch im- mer in fortgehender Entwickelung begriffene gelehrte Fabel: die ſpätern kannte man nur höchſt fragmentariſch, nach der Darſtellung der jedes Mal ſiegreich gebliebenen Partei: die große kirchliche Fiction hatte die wichtigſten Theile ab- ſichtlich verfälſcht. Zu wahrhaft geiſtiger, lebendiger, zu- ſammenhangender Auffaſſung war nicht zu gelangen: der Geiſt, den nach ächter Erkenntniß dürſtet, ſchauderte doch vor dieſen unbezwinglichen Maſſen. Einen Ver- ſuch ſie zu durchbrechen, machte eben in dieſem Jahre Johann Aventin, ein Mann, der früher die literariſche Richtung der Neuerung mittheilnehmend begleitet und ſich jetzt der religiöſen mit lebendigem Eifer hingab. Er ließ ſich keine Mühe verdrießen, für ſeine bairiſche Chronik, die zugleich einen allgemein deutſchen, ja univerſalhiſtoriſchen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0096"n="86"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Drittes Buch. Drittes Capitel</hi>.</fw><lb/>
ein merkwürdiges Zeugniß für die allgemeine Verbreitung<lb/>
des reformatoriſchen Geiſtes. Er klagt darüber daß ſein<lb/>
Hörſaal veröde: kaum ſechs Zuhörer zähle er noch und die<lb/>ſeyen alle Franzoſen; zugleich aber weiß er doch ſein eignes<lb/>
wiſſenſchaftliches Bemühen nicht anders zu bezeichnen, als<lb/>
indem er es mit den Beſtrebungen Luthers vergleicht. Die<lb/>
Gloſſatoren der ächten Texte, mit denen er es zu thun hat,<lb/>
kommen ihm nicht anders vor, als die Scholaſtiker welche<lb/>
Luther bekämpft: er möchte das urſprüngliche römiſche Recht<lb/>
in ſeiner Reinheit wiederherſtellen, wie Luther die Theolo-<lb/>
gie der Bibel.</p><lb/><p>Von allen andern Studien aber, welchen wäre ein<lb/>
ähnliches Beſtreben nothwendiger geweſen als den hiſto-<lb/>
riſchen? Da war ein unermeßlicher Stoff aufgeſam-<lb/>
melt; aber die früheren Epochen verhüllte die noch im-<lb/>
mer in fortgehender Entwickelung begriffene gelehrte Fabel:<lb/>
die ſpätern kannte man nur höchſt fragmentariſch, nach<lb/>
der Darſtellung der jedes Mal ſiegreich gebliebenen Partei:<lb/>
die große kirchliche Fiction hatte die wichtigſten Theile ab-<lb/>ſichtlich verfälſcht. Zu wahrhaft geiſtiger, lebendiger, zu-<lb/>ſammenhangender Auffaſſung war nicht zu gelangen: der<lb/>
Geiſt, den nach ächter Erkenntniß dürſtet, ſchauderte<lb/>
doch vor dieſen unbezwinglichen Maſſen. Einen Ver-<lb/>ſuch ſie zu durchbrechen, machte eben in dieſem Jahre<lb/>
Johann Aventin, ein Mann, der früher die literariſche<lb/>
Richtung der Neuerung mittheilnehmend begleitet und ſich<lb/>
jetzt der religiöſen mit lebendigem Eifer hingab. Er ließ<lb/>ſich keine Mühe verdrießen, für ſeine bairiſche Chronik, die<lb/>
zugleich einen allgemein deutſchen, ja univerſalhiſtoriſchen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[86/0096]
Drittes Buch. Drittes Capitel.
ein merkwürdiges Zeugniß für die allgemeine Verbreitung
des reformatoriſchen Geiſtes. Er klagt darüber daß ſein
Hörſaal veröde: kaum ſechs Zuhörer zähle er noch und die
ſeyen alle Franzoſen; zugleich aber weiß er doch ſein eignes
wiſſenſchaftliches Bemühen nicht anders zu bezeichnen, als
indem er es mit den Beſtrebungen Luthers vergleicht. Die
Gloſſatoren der ächten Texte, mit denen er es zu thun hat,
kommen ihm nicht anders vor, als die Scholaſtiker welche
Luther bekämpft: er möchte das urſprüngliche römiſche Recht
in ſeiner Reinheit wiederherſtellen, wie Luther die Theolo-
gie der Bibel.
Von allen andern Studien aber, welchen wäre ein
ähnliches Beſtreben nothwendiger geweſen als den hiſto-
riſchen? Da war ein unermeßlicher Stoff aufgeſam-
melt; aber die früheren Epochen verhüllte die noch im-
mer in fortgehender Entwickelung begriffene gelehrte Fabel:
die ſpätern kannte man nur höchſt fragmentariſch, nach
der Darſtellung der jedes Mal ſiegreich gebliebenen Partei:
die große kirchliche Fiction hatte die wichtigſten Theile ab-
ſichtlich verfälſcht. Zu wahrhaft geiſtiger, lebendiger, zu-
ſammenhangender Auffaſſung war nicht zu gelangen: der
Geiſt, den nach ächter Erkenntniß dürſtet, ſchauderte
doch vor dieſen unbezwinglichen Maſſen. Einen Ver-
ſuch ſie zu durchbrechen, machte eben in dieſem Jahre
Johann Aventin, ein Mann, der früher die literariſche
Richtung der Neuerung mittheilnehmend begleitet und ſich
jetzt der religiöſen mit lebendigem Eifer hingab. Er ließ
ſich keine Mühe verdrießen, für ſeine bairiſche Chronik, die
zugleich einen allgemein deutſchen, ja univerſalhiſtoriſchen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation02_1839/96>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.