Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839.Unruhen in Wittenberg. schon drang er darauf, daß der Glaube in guten Sitten,brüderlicher Liebe, Zucht und Ordnung sich darstellen müsse. 1 Nach allen Seiten wies die sich entwickelnde religiöse Überzeugung das Ungleichartige von sich und bildete ihren Inhalt zugleich individueller und allgemein gültiger, nach ihrer innern Nothwendigkeit aus. Noch mitten in den Stürmen, im Dezember 1521, war das erste Lehrbuch der Theologie nach den neuen Grundsätzen erschienen, Melanchthons loci communes, noch lange kein vollständiges Werk, in seinem Ursprung nur eine Zusam- menstellung der Grundsätze des Apostels Paulus über Sünde, Gesetz und Gnade, und zwar durchaus in den strengen Begriffen, von denen Luthers Erweckung ausgegangen, aber dabei schon darum höchst merkwürdig, weil es von der bisherigen Entwickelung der scholastischen Theologie so völ- lig abwich und seit so vielen Jahrhunderten in der lateini- schen Kirche zum ersten Mal ein System aus der Schrift allein zusammenstellte; von Luthers Beifall empfohlen machte es nun seinen Weg durch die Welt; in immer neuen Aus- gaben ward es umgebildet, vervollständigt. 2 Und eine noch 1 Eine merkwürdige Stelle aus einer seiner Predigten führt Eberlin von Günzburg an: Vermanung an alle frumen Christen zu Augsburg am Lech. Ich hab gehort, sagt er, von D Martin Luther, in ainer Predig ain groß war wort, das er sagt, wie man die sach anfacht, so felt unrat darauf; predigt man den glauben allein, als man thon sol, so unterleßt man alle zucht und ordnung, predigt man zucht und ordnung so felt man so gantz darauff das man alle se- lickait darein setzt und vergißt des glauben; das mittel aber were gut, das man also den glauben yebte das er ausbreche in zucht und ordnung, und also übte sich in guten siten und in briederlicher liebe das man doch selikait allein durch den glauben gewertig were. 2 Man erkennt den Ursprung und die Zusammensetzung dieser 3*
Unruhen in Wittenberg. ſchon drang er darauf, daß der Glaube in guten Sitten,brüderlicher Liebe, Zucht und Ordnung ſich darſtellen müſſe. 1 Nach allen Seiten wies die ſich entwickelnde religiöſe Überzeugung das Ungleichartige von ſich und bildete ihren Inhalt zugleich individueller und allgemein gültiger, nach ihrer innern Nothwendigkeit aus. Noch mitten in den Stürmen, im Dezember 1521, war das erſte Lehrbuch der Theologie nach den neuen Grundſätzen erſchienen, Melanchthons loci communes, noch lange kein vollſtändiges Werk, in ſeinem Urſprung nur eine Zuſam- menſtellung der Grundſätze des Apoſtels Paulus über Sünde, Geſetz und Gnade, und zwar durchaus in den ſtrengen Begriffen, von denen Luthers Erweckung ausgegangen, aber dabei ſchon darum höchſt merkwürdig, weil es von der bisherigen Entwickelung der ſcholaſtiſchen Theologie ſo völ- lig abwich und ſeit ſo vielen Jahrhunderten in der lateini- ſchen Kirche zum erſten Mal ein Syſtem aus der Schrift allein zuſammenſtellte; von Luthers Beifall empfohlen machte es nun ſeinen Weg durch die Welt; in immer neuen Aus- gaben ward es umgebildet, vervollſtändigt. 2 Und eine noch 1 Eine merkwuͤrdige Stelle aus einer ſeiner Predigten fuͤhrt Eberlin von Guͤnzburg an: Vermanung an alle frumen Chriſten zu Augsburg am Lech. Ich hab gehort, ſagt er, von D Martin Luther, in ainer Predig ain groß war wort, das er ſagt, wie man die ſach anfacht, ſo felt unrat darauf; predigt man den glauben allein, als man thon ſol, ſo unterleßt man alle zucht und ordnung, predigt man zucht und ordnung ſo felt man ſo gantz darauff das man alle ſe- lickait darein ſetzt und vergißt des glauben; das mittel aber were gut, das man alſo den glauben yebte das er ausbreche in zucht und ordnung, und alſo uͤbte ſich in guten ſiten und in briederlicher liebe das man doch ſelikait allein durch den glauben gewertig were. 2 Man erkennt den Urſprung und die Zuſammenſetzung dieſer 3*
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Unruhen in Wittenberg.
ſchon drang er darauf, daß der Glaube in guten Sitten,
brüderlicher Liebe, Zucht und Ordnung ſich darſtellen
müſſe. 1 Nach allen Seiten wies die ſich entwickelnde
religiöſe Überzeugung das Ungleichartige von ſich und
bildete ihren Inhalt zugleich individueller und allgemein
gültiger, nach ihrer innern Nothwendigkeit aus. Noch
mitten in den Stürmen, im Dezember 1521, war das
erſte Lehrbuch der Theologie nach den neuen Grundſätzen
erſchienen, Melanchthons loci communes, noch lange kein
vollſtändiges Werk, in ſeinem Urſprung nur eine Zuſam-
menſtellung der Grundſätze des Apoſtels Paulus über Sünde,
Geſetz und Gnade, und zwar durchaus in den ſtrengen
Begriffen, von denen Luthers Erweckung ausgegangen, aber
dabei ſchon darum höchſt merkwürdig, weil es von der
bisherigen Entwickelung der ſcholaſtiſchen Theologie ſo völ-
lig abwich und ſeit ſo vielen Jahrhunderten in der lateini-
ſchen Kirche zum erſten Mal ein Syſtem aus der Schrift
allein zuſammenſtellte; von Luthers Beifall empfohlen machte
es nun ſeinen Weg durch die Welt; in immer neuen Aus-
gaben ward es umgebildet, vervollſtändigt. 2 Und eine noch
1 Eine merkwuͤrdige Stelle aus einer ſeiner Predigten fuͤhrt
Eberlin von Guͤnzburg an: Vermanung an alle frumen Chriſten zu
Augsburg am Lech. Ich hab gehort, ſagt er, von D Martin Luther,
in ainer Predig ain groß war wort, das er ſagt, wie man die ſach
anfacht, ſo felt unrat darauf; predigt man den glauben allein, als
man thon ſol, ſo unterleßt man alle zucht und ordnung, predigt man
zucht und ordnung ſo felt man ſo gantz darauff das man alle ſe-
lickait darein ſetzt und vergißt des glauben; das mittel aber were
gut, das man alſo den glauben yebte das er ausbreche in zucht und
ordnung, und alſo uͤbte ſich in guten ſiten und in briederlicher liebe
das man doch ſelikait allein durch den glauben gewertig were.
2 Man erkennt den Urſprung und die Zuſammenſetzung dieſer
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