In Orlamünde, einer von jenen dem Wittenberger Stift zu Gunsten der Universität incorporirten Pfarren, predigte Carlstadt. Er hatte sich hier nicht eben auf das regelmä- ßigste, im Widerspruch mit den ordentlichen Collatoren, kraft eines gewissen Anspruchs den er als Mitglied des Stiftes erhob, doch hauptsächlich durch die Wahl der Ge- meine in Besitz gesetzt, und nun die Bilder beseitigt, den Gottesdienst auf seine eigne Hand eingerichtet, über die Lehre von der Kirche, namentlich auch über die Verbind- lichkeit des mosaischen Gesetzes die wunderlichsten Ansichten verbreitet. Es kommt ein Mann vor, der auf Carlstadts Rath zwei Frauen zu nehmen begehrt. 1 So durchaus ver- mischte dieser kühne und verworrene Geist das nationale und das religiöse Element des alten Testaments. Luther meinte, in Kurzem werde man in Orlamünde die Beschnei- dung einführen. Er hielt es für nothwendig seinen Fürsten vor allen Unternehmungen dieser Art ernstlich zu warnen.
Schon war auch Johann Strauß zu Eisenach auf einen ähnlichen Abweg gerathen. Er eiferte besonders wi- der die Sitte, Zinsen von einem Darlehn zu nehmen: in- dem er meinte, an die heidnischen Rechte der Juristen sey man nicht gebunden, und dagegen die mosaische Einrich- tung des Jubeljahrs, "in welchem ein jeder wieder zuge- lassen werden soll zu seinen verkauften Erbgütern," für ein noch immer gültiges Gebot Gottes erklärte, stellte er den gesammten bürgerlichen Zustand in Frage. 2
1 Schreiben Luthers an Brück 13 Jan. 1524 (de W. II, nr. 572.)
2 Das wucher zu nemen und geben unserm christlichen Glau-
Drittes Buch. Sechstes Capitel.
In Orlamünde, einer von jenen dem Wittenberger Stift zu Gunſten der Univerſität incorporirten Pfarren, predigte Carlſtadt. Er hatte ſich hier nicht eben auf das regelmä- ßigſte, im Widerſpruch mit den ordentlichen Collatoren, kraft eines gewiſſen Anſpruchs den er als Mitglied des Stiftes erhob, doch hauptſächlich durch die Wahl der Ge- meine in Beſitz geſetzt, und nun die Bilder beſeitigt, den Gottesdienſt auf ſeine eigne Hand eingerichtet, über die Lehre von der Kirche, namentlich auch über die Verbind- lichkeit des moſaiſchen Geſetzes die wunderlichſten Anſichten verbreitet. Es kommt ein Mann vor, der auf Carlſtadts Rath zwei Frauen zu nehmen begehrt. 1 So durchaus ver- miſchte dieſer kühne und verworrene Geiſt das nationale und das religiöſe Element des alten Teſtaments. Luther meinte, in Kurzem werde man in Orlamünde die Beſchnei- dung einführen. Er hielt es für nothwendig ſeinen Fürſten vor allen Unternehmungen dieſer Art ernſtlich zu warnen.
Schon war auch Johann Strauß zu Eiſenach auf einen ähnlichen Abweg gerathen. Er eiferte beſonders wi- der die Sitte, Zinſen von einem Darlehn zu nehmen: in- dem er meinte, an die heidniſchen Rechte der Juriſten ſey man nicht gebunden, und dagegen die moſaiſche Einrich- tung des Jubeljahrs, „in welchem ein jeder wieder zuge- laſſen werden ſoll zu ſeinen verkauften Erbgütern,“ für ein noch immer gültiges Gebot Gottes erklärte, ſtellte er den geſammten bürgerlichen Zuſtand in Frage. 2
1 Schreiben Luthers an Bruͤck 13 Jan. 1524 (de W. II, nr. 572.)
2 Das wucher zu nemen und geben unſerm chriſtlichen Glau-
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Drittes Buch. Sechstes Capitel.
In Orlamünde, einer von jenen dem Wittenberger Stift
zu Gunſten der Univerſität incorporirten Pfarren, predigte
Carlſtadt. Er hatte ſich hier nicht eben auf das regelmä-
ßigſte, im Widerſpruch mit den ordentlichen Collatoren,
kraft eines gewiſſen Anſpruchs den er als Mitglied des
Stiftes erhob, doch hauptſächlich durch die Wahl der Ge-
meine in Beſitz geſetzt, und nun die Bilder beſeitigt, den
Gottesdienſt auf ſeine eigne Hand eingerichtet, über die
Lehre von der Kirche, namentlich auch über die Verbind-
lichkeit des moſaiſchen Geſetzes die wunderlichſten Anſichten
verbreitet. Es kommt ein Mann vor, der auf Carlſtadts
Rath zwei Frauen zu nehmen begehrt. 1 So durchaus ver-
miſchte dieſer kühne und verworrene Geiſt das nationale
und das religiöſe Element des alten Teſtaments. Luther
meinte, in Kurzem werde man in Orlamünde die Beſchnei-
dung einführen. Er hielt es für nothwendig ſeinen Fürſten
vor allen Unternehmungen dieſer Art ernſtlich zu warnen.
Schon war auch Johann Strauß zu Eiſenach auf
einen ähnlichen Abweg gerathen. Er eiferte beſonders wi-
der die Sitte, Zinſen von einem Darlehn zu nehmen: in-
dem er meinte, an die heidniſchen Rechte der Juriſten ſey
man nicht gebunden, und dagegen die moſaiſche Einrich-
tung des Jubeljahrs, „in welchem ein jeder wieder zuge-
laſſen werden ſoll zu ſeinen verkauften Erbgütern,“ für ein
noch immer gültiges Gebot Gottes erklärte, ſtellte er den
geſammten bürgerlichen Zuſtand in Frage. 2
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nr. 572.)
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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation02_1839/194>, abgerufen am 27.11.2024.
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