Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorwort.
durfte er es nicht wagen: er hätte fürchten müssen den gei-
stigen Grund zu untergraben auf welchem seine eigne Würde
beruhte; übrigens hätte er ja auch erst selbst den Kreis der
Vorstellungen zu durchbrechen gehabt, der die Gemüther fes-
selte. Die Staatsgewalten fühlten sich immer in unauflös-
lichen Beziehungen zur Hierarchie; die Verfolgungen der
Andersgläubigen führten sie in der Regel selber aus.

Dazu kam, daß sich mit den letzten Angriffen auf das
römische Kirchenwesen in der That Unternehmungen der ge-
fährlichsten Art in Verbindung gesetzt hatten.

Es war nun anderthalb Jahrhunderte her, daß John
Wicliffe in England ziemlich mit denselben Waffen wie Lu-
ther, und durch verwandte nationale Regungen unterstützt,
den Kampf mit dem Papstthum unternommen hatte, aber
auf der Stelle hatte sich ihm eine stürmische Bewegung
der untersten Stände zugesellt, die mit den Verbesse-
rungen des Dogma oder der Emancipation von dem rö-
mischen Stuhle nicht zufrieden, auf die Vertilgung der
gesammten Pfründen besetzenden Geistlichkeit, 1 ja auf die
Gleichmachung des Edelmanns und des Bauern, d. i. auf
eine vollständige Umkehr der Kirche und des Staates aus-
gieng. Mochte nun Wicliffe an diesem Treiben Antheil
haben oder nicht, genug, von der Ungunst welche es er-
weckte, ward auch er betroffen, und von dem Schauplatz
seiner Thätigkeit, von Oxford, von wo er sich unmittelbar
in der Welt hätte Bahn machen können, auf den engen
Wirkungskreis einer Landpfarre verwiesen.


1 Vgl. Prioris et capituli Cantuarensis mandatum 16 Spt.
1381 bei Wilkins Concilia Magnae Britanniae III, 133.

Vorwort.
durfte er es nicht wagen: er hätte fürchten müſſen den gei-
ſtigen Grund zu untergraben auf welchem ſeine eigne Würde
beruhte; übrigens hätte er ja auch erſt ſelbſt den Kreis der
Vorſtellungen zu durchbrechen gehabt, der die Gemüther feſ-
ſelte. Die Staatsgewalten fühlten ſich immer in unauflös-
lichen Beziehungen zur Hierarchie; die Verfolgungen der
Andersgläubigen führten ſie in der Regel ſelber aus.

Dazu kam, daß ſich mit den letzten Angriffen auf das
römiſche Kirchenweſen in der That Unternehmungen der ge-
fährlichſten Art in Verbindung geſetzt hatten.

Es war nun anderthalb Jahrhunderte her, daß John
Wicliffe in England ziemlich mit denſelben Waffen wie Lu-
ther, und durch verwandte nationale Regungen unterſtützt,
den Kampf mit dem Papſtthum unternommen hatte, aber
auf der Stelle hatte ſich ihm eine ſtürmiſche Bewegung
der unterſten Stände zugeſellt, die mit den Verbeſſe-
rungen des Dogma oder der Emancipation von dem rö-
miſchen Stuhle nicht zufrieden, auf die Vertilgung der
geſammten Pfründen beſetzenden Geiſtlichkeit, 1 ja auf die
Gleichmachung des Edelmanns und des Bauern, d. i. auf
eine vollſtändige Umkehr der Kirche und des Staates aus-
gieng. Mochte nun Wicliffe an dieſem Treiben Antheil
haben oder nicht, genug, von der Ungunſt welche es er-
weckte, ward auch er betroffen, und von dem Schauplatz
ſeiner Thätigkeit, von Oxford, von wo er ſich unmittelbar
in der Welt hätte Bahn machen können, auf den engen
Wirkungskreis einer Landpfarre verwieſen.


1 Vgl. Prioris et capituli Cantuarensis mandatum 16 Spt.
1381 bei Wilkins Concilia Magnae Britanniae III, 133.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0015" n="5"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Vorwort</hi>.</fw><lb/>
durfte er es nicht wagen: er hätte fürchten mü&#x017F;&#x017F;en den gei-<lb/>
&#x017F;tigen Grund zu untergraben auf welchem &#x017F;eine eigne Würde<lb/>
beruhte; übrigens hätte er ja auch er&#x017F;t &#x017F;elb&#x017F;t den Kreis der<lb/>
Vor&#x017F;tellungen zu durchbrechen gehabt, der die Gemüther fe&#x017F;-<lb/>
&#x017F;elte. Die Staatsgewalten fühlten &#x017F;ich immer in unauflös-<lb/>
lichen Beziehungen zur Hierarchie; die Verfolgungen der<lb/>
Andersgläubigen führten &#x017F;ie in der Regel &#x017F;elber aus.</p><lb/>
        <p>Dazu kam, daß &#x017F;ich mit den letzten Angriffen auf das<lb/>
römi&#x017F;che Kirchenwe&#x017F;en in der That Unternehmungen der ge-<lb/>
fährlich&#x017F;ten Art in Verbindung ge&#x017F;etzt hatten.</p><lb/>
        <p>Es war nun anderthalb Jahrhunderte her, daß John<lb/>
Wicliffe in England ziemlich mit den&#x017F;elben Waffen wie Lu-<lb/>
ther, und durch verwandte nationale Regungen unter&#x017F;tützt,<lb/>
den Kampf mit dem Pap&#x017F;tthum unternommen hatte, aber<lb/>
auf der Stelle hatte &#x017F;ich ihm eine &#x017F;türmi&#x017F;che Bewegung<lb/>
der unter&#x017F;ten Stände zuge&#x017F;ellt, die mit den Verbe&#x017F;&#x017F;e-<lb/>
rungen des Dogma oder der Emancipation von dem rö-<lb/>
mi&#x017F;chen Stuhle nicht zufrieden, auf die Vertilgung der<lb/>
ge&#x017F;ammten Pfründen be&#x017F;etzenden Gei&#x017F;tlichkeit, <note place="foot" n="1">Vgl. <hi rendition="#aq">Prioris et capituli Cantuarensis mandatum</hi> 16 Spt.<lb/>
1381 bei Wilkins <hi rendition="#aq">Concilia Magnae Britanniae III,</hi> 133.</note> ja auf die<lb/>
Gleichmachung des Edelmanns und des Bauern, d. i. auf<lb/>
eine voll&#x017F;tändige Umkehr der Kirche und des Staates aus-<lb/>
gieng. Mochte nun Wicliffe an die&#x017F;em Treiben Antheil<lb/>
haben oder nicht, genug, von der Ungun&#x017F;t welche es er-<lb/>
weckte, ward auch er betroffen, und von dem Schauplatz<lb/>
&#x017F;einer Thätigkeit, von Oxford, von wo er &#x017F;ich unmittelbar<lb/>
in der Welt hätte Bahn machen können, auf den engen<lb/>
Wirkungskreis einer Landpfarre verwie&#x017F;en.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[5/0015] Vorwort. durfte er es nicht wagen: er hätte fürchten müſſen den gei- ſtigen Grund zu untergraben auf welchem ſeine eigne Würde beruhte; übrigens hätte er ja auch erſt ſelbſt den Kreis der Vorſtellungen zu durchbrechen gehabt, der die Gemüther feſ- ſelte. Die Staatsgewalten fühlten ſich immer in unauflös- lichen Beziehungen zur Hierarchie; die Verfolgungen der Andersgläubigen führten ſie in der Regel ſelber aus. Dazu kam, daß ſich mit den letzten Angriffen auf das römiſche Kirchenweſen in der That Unternehmungen der ge- fährlichſten Art in Verbindung geſetzt hatten. Es war nun anderthalb Jahrhunderte her, daß John Wicliffe in England ziemlich mit denſelben Waffen wie Lu- ther, und durch verwandte nationale Regungen unterſtützt, den Kampf mit dem Papſtthum unternommen hatte, aber auf der Stelle hatte ſich ihm eine ſtürmiſche Bewegung der unterſten Stände zugeſellt, die mit den Verbeſſe- rungen des Dogma oder der Emancipation von dem rö- miſchen Stuhle nicht zufrieden, auf die Vertilgung der geſammten Pfründen beſetzenden Geiſtlichkeit, 1 ja auf die Gleichmachung des Edelmanns und des Bauern, d. i. auf eine vollſtändige Umkehr der Kirche und des Staates aus- gieng. Mochte nun Wicliffe an dieſem Treiben Antheil haben oder nicht, genug, von der Ungunſt welche es er- weckte, ward auch er betroffen, und von dem Schauplatz ſeiner Thätigkeit, von Oxford, von wo er ſich unmittelbar in der Welt hätte Bahn machen können, auf den engen Wirkungskreis einer Landpfarre verwieſen. 1 Vgl. Prioris et capituli Cantuarensis mandatum 16 Spt. 1381 bei Wilkins Concilia Magnae Britanniae III, 133.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation02_1839
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation02_1839/15
Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation02_1839/15>, abgerufen am 24.11.2024.