das gesammte Leben der europäischen Nationen seit Jahr- hunderten einen so mächtigen Einfluß ausgeübt hatte.
Was in Europa bestand, war doch im Grunde eben jener kriegerisch-priesterliche Staat, der im 8ten, 9ten Jahrhundert gebildet worden, und allen Veränderungen welche eingetreten seyn mochten zum Trotz, in seiner Tiefe, der Mischung seiner Grundbestandtheile immer derselbe ge- blieben war. Ja die Veränderungen welche geschehen selbst, hatten doch in der Regel das priesterliche Element begünstigt; eben vermöge seiner Siege hatte es alle For- men des öffentlichen und des Privat-Lebens, alle Adern der geistigen Bildung durchdrungen. Wie war es möglich, es anzugreifen, ohne alles zu erschüttern, in Frage zu setzen, ohne das ganze gebildete Daseyn zu gefährden.
Man dürfte nicht glauben, dem Dogma, in dem Fort- gange seiner hierarchisch-scholastischen Formation, habe eine so unwiderstehliche Kraft die Gemüther zu überzeugen, sich zu ei- gen zu machen, beigewohnt. Diese Festsetzung selbst hatte viel- mehr unaufhörlichen Widerspruch gefunden; in der Regel wohl nur innerhalb des Kreises der einmal angenommenen Ideen, zuweilen aber auch jenseit desselben in entschlossener Feindseligkeit. Allein das enge Verhältniß, in dem sich das Papstthum zu allen bestehenden Gewalten zu erhalten wußte, hatte immer bewirkt, daß die Oppositionen unterlagen. Wie hätte auch z. B. ein Kaiser es wagen können, eine dem herrschenden System der Gedanken nicht in einzelnen Bestimmungen, worauf wenig ankam, sondern innerlich und wesentlich entgegengesetzte religiöse Meinung in Schutz zu nehmen? Selbst einem Papste gegenüber, den er bekriegte,
Drittes Buch.
das geſammte Leben der europäiſchen Nationen ſeit Jahr- hunderten einen ſo mächtigen Einfluß ausgeübt hatte.
Was in Europa beſtand, war doch im Grunde eben jener kriegeriſch-prieſterliche Staat, der im 8ten, 9ten Jahrhundert gebildet worden, und allen Veränderungen welche eingetreten ſeyn mochten zum Trotz, in ſeiner Tiefe, der Miſchung ſeiner Grundbeſtandtheile immer derſelbe ge- blieben war. Ja die Veränderungen welche geſchehen ſelbſt, hatten doch in der Regel das prieſterliche Element begünſtigt; eben vermöge ſeiner Siege hatte es alle For- men des öffentlichen und des Privat-Lebens, alle Adern der geiſtigen Bildung durchdrungen. Wie war es möglich, es anzugreifen, ohne alles zu erſchüttern, in Frage zu ſetzen, ohne das ganze gebildete Daſeyn zu gefährden.
Man dürfte nicht glauben, dem Dogma, in dem Fort- gange ſeiner hierarchiſch-ſcholaſtiſchen Formation, habe eine ſo unwiderſtehliche Kraft die Gemüther zu überzeugen, ſich zu ei- gen zu machen, beigewohnt. Dieſe Feſtſetzung ſelbſt hatte viel- mehr unaufhörlichen Widerſpruch gefunden; in der Regel wohl nur innerhalb des Kreiſes der einmal angenommenen Ideen, zuweilen aber auch jenſeit deſſelben in entſchloſſener Feindſeligkeit. Allein das enge Verhältniß, in dem ſich das Papſtthum zu allen beſtehenden Gewalten zu erhalten wußte, hatte immer bewirkt, daß die Oppoſitionen unterlagen. Wie hätte auch z. B. ein Kaiſer es wagen können, eine dem herrſchenden Syſtem der Gedanken nicht in einzelnen Beſtimmungen, worauf wenig ankam, ſondern innerlich und weſentlich entgegengeſetzte religiöſe Meinung in Schutz zu nehmen? Selbſt einem Papſte gegenüber, den er bekriegte,
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Drittes Buch.
das geſammte Leben der europäiſchen Nationen ſeit Jahr-
hunderten einen ſo mächtigen Einfluß ausgeübt hatte.
Was in Europa beſtand, war doch im Grunde eben
jener kriegeriſch-prieſterliche Staat, der im 8ten, 9ten
Jahrhundert gebildet worden, und allen Veränderungen
welche eingetreten ſeyn mochten zum Trotz, in ſeiner Tiefe,
der Miſchung ſeiner Grundbeſtandtheile immer derſelbe ge-
blieben war. Ja die Veränderungen welche geſchehen
ſelbſt, hatten doch in der Regel das prieſterliche Element
begünſtigt; eben vermöge ſeiner Siege hatte es alle For-
men des öffentlichen und des Privat-Lebens, alle Adern
der geiſtigen Bildung durchdrungen. Wie war es möglich,
es anzugreifen, ohne alles zu erſchüttern, in Frage zu ſetzen,
ohne das ganze gebildete Daſeyn zu gefährden.
Man dürfte nicht glauben, dem Dogma, in dem Fort-
gange ſeiner hierarchiſch-ſcholaſtiſchen Formation, habe eine ſo
unwiderſtehliche Kraft die Gemüther zu überzeugen, ſich zu ei-
gen zu machen, beigewohnt. Dieſe Feſtſetzung ſelbſt hatte viel-
mehr unaufhörlichen Widerſpruch gefunden; in der Regel
wohl nur innerhalb des Kreiſes der einmal angenommenen
Ideen, zuweilen aber auch jenſeit deſſelben in entſchloſſener
Feindſeligkeit. Allein das enge Verhältniß, in dem ſich das
Papſtthum zu allen beſtehenden Gewalten zu erhalten wußte,
hatte immer bewirkt, daß die Oppoſitionen unterlagen.
Wie hätte auch z. B. ein Kaiſer es wagen können, eine
dem herrſchenden Syſtem der Gedanken nicht in einzelnen
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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation02_1839/14>, abgerufen am 18.12.2024.
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