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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839.

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Zweites Buch. Erstes Capitel.
ten, hauptsächlich zwischen den verheiratheten und den un-
verheiratheten Priestern, der gelben und der rothen Pro-
fession, die sich an verschiedne Oberhäupter halten, können
sie nicht hervorbringen. Die entgegengesetzten Lamas wall-
fahrten einer zum andern: erkennen sich gegenseitig an.

Wie Brama und Buddha, so standen einander inner-
halb des Islam seit seinem Ursprung die drei alten Cha-
lifen und Ali entgegen; im Anfang des sechszehnten Jahr-
hunderts erwachte der Streit der beiden Secten, der eine
Zeitlang geruht hatte, mit verdoppelter Stärke. Der Sul-
tan der Osmanen betrachtete sich als den Nachfolger Ebu-
bekrs und jener ersten Chalifen, als das religiöse Oberhaupt
aller Sunni in seinen eignen, so wie in fremden Gebieten,
von Marokko bis Bochara. Dagegen erhob sich aus ei-
nem Geschlechte mystischer Scheiche zu Erdebil, das sich
von Ali herleitete, ein glücklicher Feldherr, Ismail Sophi,
der das neupersische Reich stiftete und den Shii aufs neue
eine mächtige Repräsentation, eine weltbedeutende Stellung
verschaffte. Unglücklicherweise ließ sich weder die eine noch
die andre Partei angelegen seyn, die Keime der Cultur zu
pflegen, welche seit den besseren Zeiten des alten Chalifats
auch dieser Boden nährte: sie entwickelten nur die Ten-
denzen despotischer Alleinherrschaft, die der Islam so eigen
begünstigt, und steigerten ihre natürliche politische Feind-
seligkeit durch die Motive des Fanatismus zu einer un-
glaublichen Wuth. Die türkischen Geschichtschreiber erzäh-

nicht viel, da hier nicht von einer alten vielleicht noch verborgen lie-
genden, sondern von einer lebendigen Literatur des heutigen Tages
die Rede ist.

Zweites Buch. Erſtes Capitel.
ten, hauptſächlich zwiſchen den verheiratheten und den un-
verheiratheten Prieſtern, der gelben und der rothen Pro-
feſſion, die ſich an verſchiedne Oberhäupter halten, können
ſie nicht hervorbringen. Die entgegengeſetzten Lamas wall-
fahrten einer zum andern: erkennen ſich gegenſeitig an.

Wie Brama und Buddha, ſo ſtanden einander inner-
halb des Islam ſeit ſeinem Urſprung die drei alten Cha-
lifen und Ali entgegen; im Anfang des ſechszehnten Jahr-
hunderts erwachte der Streit der beiden Secten, der eine
Zeitlang geruht hatte, mit verdoppelter Stärke. Der Sul-
tan der Osmanen betrachtete ſich als den Nachfolger Ebu-
bekrs und jener erſten Chalifen, als das religiöſe Oberhaupt
aller Sunni in ſeinen eignen, ſo wie in fremden Gebieten,
von Marokko bis Bochara. Dagegen erhob ſich aus ei-
nem Geſchlechte myſtiſcher Scheiche zu Erdebil, das ſich
von Ali herleitete, ein glücklicher Feldherr, Ismail Sophi,
der das neuperſiſche Reich ſtiftete und den Shii aufs neue
eine mächtige Repräſentation, eine weltbedeutende Stellung
verſchaffte. Unglücklicherweiſe ließ ſich weder die eine noch
die andre Partei angelegen ſeyn, die Keime der Cultur zu
pflegen, welche ſeit den beſſeren Zeiten des alten Chalifats
auch dieſer Boden nährte: ſie entwickelten nur die Ten-
denzen despotiſcher Alleinherrſchaft, die der Islam ſo eigen
begünſtigt, und ſteigerten ihre natürliche politiſche Feind-
ſeligkeit durch die Motive des Fanatismus zu einer un-
glaublichen Wuth. Die türkiſchen Geſchichtſchreiber erzäh-

nicht viel, da hier nicht von einer alten vielleicht noch verborgen lie-
genden, ſondern von einer lebendigen Literatur des heutigen Tages
die Rede iſt.
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[228/0246] Zweites Buch. Erſtes Capitel. ten, hauptſächlich zwiſchen den verheiratheten und den un- verheiratheten Prieſtern, der gelben und der rothen Pro- feſſion, die ſich an verſchiedne Oberhäupter halten, können ſie nicht hervorbringen. Die entgegengeſetzten Lamas wall- fahrten einer zum andern: erkennen ſich gegenſeitig an. Wie Brama und Buddha, ſo ſtanden einander inner- halb des Islam ſeit ſeinem Urſprung die drei alten Cha- lifen und Ali entgegen; im Anfang des ſechszehnten Jahr- hunderts erwachte der Streit der beiden Secten, der eine Zeitlang geruht hatte, mit verdoppelter Stärke. Der Sul- tan der Osmanen betrachtete ſich als den Nachfolger Ebu- bekrs und jener erſten Chalifen, als das religiöſe Oberhaupt aller Sunni in ſeinen eignen, ſo wie in fremden Gebieten, von Marokko bis Bochara. Dagegen erhob ſich aus ei- nem Geſchlechte myſtiſcher Scheiche zu Erdebil, das ſich von Ali herleitete, ein glücklicher Feldherr, Ismail Sophi, der das neuperſiſche Reich ſtiftete und den Shii aufs neue eine mächtige Repräſentation, eine weltbedeutende Stellung verſchaffte. Unglücklicherweiſe ließ ſich weder die eine noch die andre Partei angelegen ſeyn, die Keime der Cultur zu pflegen, welche ſeit den beſſeren Zeiten des alten Chalifats auch dieſer Boden nährte: ſie entwickelten nur die Ten- denzen despotiſcher Alleinherrſchaft, die der Islam ſo eigen begünſtigt, und ſteigerten ihre natürliche politiſche Feind- ſeligkeit durch die Motive des Fanatismus zu einer un- glaublichen Wuth. Die türkiſchen Geſchichtſchreiber erzäh- 2 2 nicht viel, da hier nicht von einer alten vielleicht noch verborgen lie- genden, ſondern von einer lebendigen Literatur des heutigen Tages die Rede iſt.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/246>, abgerufen am 22.11.2024.