Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils zweyte Abtheilung: Neuere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.In Deutschland war die gute Gesellschaft bis tief in unser Jahrhundert hinein hauptsächlich auf die Höfe eingeschränkt. An dem Wiener Hofe herrschten die Sitten des südlichen Europa: an den übrigen waren mehr die französischen eingeführt. Die Galanterie Ludwigs des Vierzehnten ward mit einer Steifheit, der freye Ton des Regenten mit einer Derbheit nachgeahmt, die Lachen und Ekel erregen. Die Schriften der Pöllnitz, Bielefeld und anderer geben nur einen schwachen Begriff von der Rohheit, womit der Adel von beyden Geschlechtern an den Höfen von Berlin, Dresden, u. s. w. unter sich zur Befriedigung der ausgelassensten Lüste zusammenlief, während daß er gegen die untern Stände mit einem falschen Anstrich französischer Artigkeit prunkte. Ungefähr gegen die Mitte dieses Jahrhunderts fing der Begriff der guten Gesellschaft an, sich über die Mittelklassen auszudehnen. Seit dieser Zeit hat auch der Geschmack an der englischen Litteratur, und besonders an englischen Romanen gewonnen. Eine gewisse Gleichheit der Lagen zwischen der lesenden und schreibenden Klasse bey uns und derjenigen, welche in jenen Romanen als handelnd dargestellt wird, hat diesen Geschmack sehr befördert. Allein da unsre bürgerliche Welt, (ich nenne sie so in Vergleichung mit der Welt der Höfe,) gegen die englische an Originalität, vernünftigem Freyheitssinn und independenter Wohlhabenheit noch sehr zurücksteht: da die mehrsten unserer Schriftsteller nicht einmahl die gute Gesellschaft der Mittelklassen kennen; so haben sich in die Schilderungen, welche unsere schöne Litteratur von Liebe und Geschlechtsverbindung liefert, alle Fehler In Deutschland war die gute Gesellschaft bis tief in unser Jahrhundert hinein hauptsächlich auf die Höfe eingeschränkt. An dem Wiener Hofe herrschten die Sitten des südlichen Europa: an den übrigen waren mehr die französischen eingeführt. Die Galanterie Ludwigs des Vierzehnten ward mit einer Steifheit, der freye Ton des Regenten mit einer Derbheit nachgeahmt, die Lachen und Ekel erregen. Die Schriften der Pöllnitz, Bielefeld und anderer geben nur einen schwachen Begriff von der Rohheit, womit der Adel von beyden Geschlechtern an den Höfen von Berlin, Dresden, u. s. w. unter sich zur Befriedigung der ausgelassensten Lüste zusammenlief, während daß er gegen die untern Stände mit einem falschen Anstrich französischer Artigkeit prunkte. Ungefähr gegen die Mitte dieses Jahrhunderts fing der Begriff der guten Gesellschaft an, sich über die Mittelklassen auszudehnen. Seit dieser Zeit hat auch der Geschmack an der englischen Litteratur, und besonders an englischen Romanen gewonnen. Eine gewisse Gleichheit der Lagen zwischen der lesenden und schreibenden Klasse bey uns und derjenigen, welche in jenen Romanen als handelnd dargestellt wird, hat diesen Geschmack sehr befördert. Allein da unsre bürgerliche Welt, (ich nenne sie so in Vergleichung mit der Welt der Höfe,) gegen die englische an Originalität, vernünftigem Freyheitssinn und independenter Wohlhabenheit noch sehr zurücksteht: da die mehrsten unserer Schriftsteller nicht einmahl die gute Gesellschaft der Mittelklassen kennen; so haben sich in die Schilderungen, welche unsere schöne Litteratur von Liebe und Geschlechtsverbindung liefert, alle Fehler <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0319" n="319"/> <p>In Deutschland war die gute Gesellschaft bis tief in unser Jahrhundert hinein hauptsächlich auf die Höfe eingeschränkt. An dem Wiener Hofe herrschten die Sitten des südlichen Europa: an den übrigen waren mehr die französischen eingeführt. 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Allein da unsre bürgerliche Welt, (ich nenne sie so in Vergleichung mit der Welt der Höfe,) gegen die englische an Originalität, vernünftigem Freyheitssinn und independenter Wohlhabenheit noch sehr zurücksteht: da die mehrsten unserer Schriftsteller nicht einmahl die gute Gesellschaft der Mittelklassen kennen; so haben sich in die Schilderungen, welche unsere schöne Litteratur von Liebe und Geschlechtsverbindung liefert, alle Fehler </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [319/0319]
In Deutschland war die gute Gesellschaft bis tief in unser Jahrhundert hinein hauptsächlich auf die Höfe eingeschränkt. An dem Wiener Hofe herrschten die Sitten des südlichen Europa: an den übrigen waren mehr die französischen eingeführt. Die Galanterie Ludwigs des Vierzehnten ward mit einer Steifheit, der freye Ton des Regenten mit einer Derbheit nachgeahmt, die Lachen und Ekel erregen. Die Schriften der Pöllnitz, Bielefeld und anderer geben nur einen schwachen Begriff von der Rohheit, womit der Adel von beyden Geschlechtern an den Höfen von Berlin, Dresden, u. s. w. unter sich zur Befriedigung der ausgelassensten Lüste zusammenlief, während daß er gegen die untern Stände mit einem falschen Anstrich französischer Artigkeit prunkte.
Ungefähr gegen die Mitte dieses Jahrhunderts fing der Begriff der guten Gesellschaft an, sich über die Mittelklassen auszudehnen. Seit dieser Zeit hat auch der Geschmack an der englischen Litteratur, und besonders an englischen Romanen gewonnen. Eine gewisse Gleichheit der Lagen zwischen der lesenden und schreibenden Klasse bey uns und derjenigen, welche in jenen Romanen als handelnd dargestellt wird, hat diesen Geschmack sehr befördert. Allein da unsre bürgerliche Welt, (ich nenne sie so in Vergleichung mit der Welt der Höfe,) gegen die englische an Originalität, vernünftigem Freyheitssinn und independenter Wohlhabenheit noch sehr zurücksteht: da die mehrsten unserer Schriftsteller nicht einmahl die gute Gesellschaft der Mittelklassen kennen; so haben sich in die Schilderungen, welche unsere schöne Litteratur von Liebe und Geschlechtsverbindung liefert, alle Fehler
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