Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.an der Geliebten Brust, und athmet seinen letzten Hauch auf ihrer blassen, blutbedeckten Wange aus. Hier wirkt unstreitig Leidenschaft zum Weibe, und man darf sagen, liebende Leidenschaft, weil Haimon seine Antigone tödtet, um ihre Leiden zu beendigen, und nur durch kindliche Pflicht abgehalten wird, mehr für sie zu thun. Aber eben dieß, daß der Dichter die Gattenliebe der Ehrfurcht gegen das ungerechte Urtheil des Vaters so ganz unterordnet, daß der fromme Haimon auch nicht einmahl den Versuch wagt, die Geliebte zu retten; - ja! was beynahe noch sonderbarer ist, der Umstand, daß Antigone einzig und allein mit der Sorge des Begräbnisses eines geliebten Bruders beschäftigt, des Bräutigams auch nicht mit einem Worte erwähnt; - Alles dieß giebt einen deutlichen Beweis, daß das Interesse, welches Gattenzärtlichkeit bey den Atheniensern erweckte, demjenigen untergeordnet war, auf welches kindliche und Geschwisterliebe Anspruch hatten. Im Oedipus Koloneus erscheint die Liebe zum Vater in der schönsten Gestalt an den beyden edeln Töchtern, und wir sehen den Vater diese mit voller Zärtlichkeit erwiedern. In der Elektra macht die Geschwisterliebe einen Hauptzug in dem Interesse aus, welches dieses Meisterstück erweckt, und sie zeigt sich mit gleicher Stärke bey dem Bruder und bey der Schwester. Hält man nun die schönen Darstellungen wechselseitiger Aeußerungen der Eltern und Geschwisterliebe unter Personen von verschiedenem Geschlechte mit dem gänzlichen Mangel an ähnlichen Auftritten, welche die Gattenliebe so leicht herbey geführt haben könnte, zusammen; so wird an der Geliebten Brust, und athmet seinen letzten Hauch auf ihrer blassen, blutbedeckten Wange aus. Hier wirkt unstreitig Leidenschaft zum Weibe, und man darf sagen, liebende Leidenschaft, weil Haimon seine Antigone tödtet, um ihre Leiden zu beendigen, und nur durch kindliche Pflicht abgehalten wird, mehr für sie zu thun. Aber eben dieß, daß der Dichter die Gattenliebe der Ehrfurcht gegen das ungerechte Urtheil des Vaters so ganz unterordnet, daß der fromme Haimon auch nicht einmahl den Versuch wagt, die Geliebte zu retten; – ja! was beynahe noch sonderbarer ist, der Umstand, daß Antigone einzig und allein mit der Sorge des Begräbnisses eines geliebten Bruders beschäftigt, des Bräutigams auch nicht mit einem Worte erwähnt; – Alles dieß giebt einen deutlichen Beweis, daß das Interesse, welches Gattenzärtlichkeit bey den Atheniensern erweckte, demjenigen untergeordnet war, auf welches kindliche und Geschwisterliebe Anspruch hatten. Im Oedipus Koloneus erscheint die Liebe zum Vater in der schönsten Gestalt an den beyden edeln Töchtern, und wir sehen den Vater diese mit voller Zärtlichkeit erwiedern. In der Elektra macht die Geschwisterliebe einen Hauptzug in dem Interesse aus, welches dieses Meisterstück erweckt, und sie zeigt sich mit gleicher Stärke bey dem Bruder und bey der Schwester. Hält man nun die schönen Darstellungen wechselseitiger Aeußerungen der Eltern und Geschwisterliebe unter Personen von verschiedenem Geschlechte mit dem gänzlichen Mangel an ähnlichen Auftritten, welche die Gattenliebe so leicht herbey geführt haben könnte, zusammen; so wird <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0071" n="71"/> an der Geliebten Brust, und athmet seinen letzten Hauch auf ihrer blassen, blutbedeckten Wange aus.</p> <p>Hier wirkt unstreitig Leidenschaft zum Weibe, und man darf sagen, liebende Leidenschaft, weil Haimon seine Antigone tödtet, um ihre Leiden zu beendigen, und nur durch kindliche Pflicht abgehalten wird, mehr für sie zu thun. 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an der Geliebten Brust, und athmet seinen letzten Hauch auf ihrer blassen, blutbedeckten Wange aus.
Hier wirkt unstreitig Leidenschaft zum Weibe, und man darf sagen, liebende Leidenschaft, weil Haimon seine Antigone tödtet, um ihre Leiden zu beendigen, und nur durch kindliche Pflicht abgehalten wird, mehr für sie zu thun. Aber eben dieß, daß der Dichter die Gattenliebe der Ehrfurcht gegen das ungerechte Urtheil des Vaters so ganz unterordnet, daß der fromme Haimon auch nicht einmahl den Versuch wagt, die Geliebte zu retten; – ja! was beynahe noch sonderbarer ist, der Umstand, daß Antigone einzig und allein mit der Sorge des Begräbnisses eines geliebten Bruders beschäftigt, des Bräutigams auch nicht mit einem Worte erwähnt; – Alles dieß giebt einen deutlichen Beweis, daß das Interesse, welches Gattenzärtlichkeit bey den Atheniensern erweckte, demjenigen untergeordnet war, auf welches kindliche und Geschwisterliebe Anspruch hatten.
Im Oedipus Koloneus erscheint die Liebe zum Vater in der schönsten Gestalt an den beyden edeln Töchtern, und wir sehen den Vater diese mit voller Zärtlichkeit erwiedern.
In der Elektra macht die Geschwisterliebe einen Hauptzug in dem Interesse aus, welches dieses Meisterstück erweckt, und sie zeigt sich mit gleicher Stärke bey dem Bruder und bey der Schwester. Hält man nun die schönen Darstellungen wechselseitiger Aeußerungen der Eltern und Geschwisterliebe unter Personen von verschiedenem Geschlechte mit dem gänzlichen Mangel an ähnlichen Auftritten, welche die Gattenliebe so leicht herbey geführt haben könnte, zusammen; so wird
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Zitationshilfe: | Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/71>, abgerufen am 17.02.2025. |