Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.sich nie so weit von der herrschenden Denkungsart und den Sitten der gebildeteren Klasse ihrer Zuschauer haben entfernen dürfen, um die Helden und Heldinnen, die sie auftreten ließen, als Geschöpfe aus einer ganz fremden Welt erscheinen zu lassen. So etwas würden wir nicht leiden, und der Athenienser litt es gewiß noch weniger. Die dargestellten Personen mußten so denken, so empfinden und so handeln, daß der Zuschauer ihre Existenz bey und neben sich als möglich ahnen konnte. Wenn wir daher die Frau in einem Zustande von orientalischer Erniedrigung dargestellt finden sollten; so dürften wir gewiß glauben, die gebildete Klasse von Athen sey daran gewöhnt gewesen, das Geschlecht im gemeinen Leben mit Verachtung behandelt zu sehen. Fänden wir hingegen, daß die Frau auf der Bühne das Publikum durch Tugenden hätte interessieren können, die kaum auf dem Theater von Paris in einem höhern Lichte erscheinen; so dürften wir eben so wohl sicher glauben, daß die gebildetere Klasse der Athenienser diesen moralischen Werth nicht unvereinbar mit dem zärteren Geschlechte gehalten habe, und in diesem Glauben durch einzelne, der Heldin auf der Bühne sich annähernde Beyspiele im gemeinen Leben, unterstützt sey. Sicher können wir ferner annehmen, daß die Betrachtungen über dargestellte Charaktere und Handlungen, welche den Chören in den Mund gelegt werden, gemeiniglich nach der Denkungsart der Zuschauer und nach ihren lokalen Sitten eingerichtet sind. Das Chor hat oft die Bestimmung, die entfernten Begebenheiten auf die jetzigen Verhältnisse der Zuschauer zurück zu führen. Wir dürfen daher besonders sich nie so weit von der herrschenden Denkungsart und den Sitten der gebildeteren Klasse ihrer Zuschauer haben entfernen dürfen, um die Helden und Heldinnen, die sie auftreten ließen, als Geschöpfe aus einer ganz fremden Welt erscheinen zu lassen. So etwas würden wir nicht leiden, und der Athenienser litt es gewiß noch weniger. Die dargestellten Personen mußten so denken, so empfinden und so handeln, daß der Zuschauer ihre Existenz bey und neben sich als möglich ahnen konnte. Wenn wir daher die Frau in einem Zustande von orientalischer Erniedrigung dargestellt finden sollten; so dürften wir gewiß glauben, die gebildete Klasse von Athen sey daran gewöhnt gewesen, das Geschlecht im gemeinen Leben mit Verachtung behandelt zu sehen. Fänden wir hingegen, daß die Frau auf der Bühne das Publikum durch Tugenden hätte interessieren können, die kaum auf dem Theater von Paris in einem höhern Lichte erscheinen; so dürften wir eben so wohl sicher glauben, daß die gebildetere Klasse der Athenienser diesen moralischen Werth nicht unvereinbar mit dem zärteren Geschlechte gehalten habe, und in diesem Glauben durch einzelne, der Heldin auf der Bühne sich annähernde Beyspiele im gemeinen Leben, unterstützt sey. Sicher können wir ferner annehmen, daß die Betrachtungen über dargestellte Charaktere und Handlungen, welche den Chören in den Mund gelegt werden, gemeiniglich nach der Denkungsart der Zuschauer und nach ihren lokalen Sitten eingerichtet sind. Das Chor hat oft die Bestimmung, die entfernten Begebenheiten auf die jetzigen Verhältnisse der Zuschauer zurück zu führen. Wir dürfen daher besonders <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0060" n="60"/> sich nie so weit von der herrschenden Denkungsart und den Sitten der gebildeteren Klasse ihrer Zuschauer haben entfernen dürfen, um die Helden und Heldinnen, die sie auftreten ließen, als Geschöpfe aus einer ganz fremden Welt erscheinen zu lassen. So etwas würden wir nicht leiden, und der Athenienser litt es gewiß noch weniger. Die dargestellten Personen mußten so denken, so empfinden und so handeln, daß der Zuschauer ihre Existenz bey und neben sich als möglich ahnen konnte. Wenn wir daher die Frau in einem Zustande von orientalischer Erniedrigung dargestellt finden sollten; so dürften wir gewiß glauben, die gebildete Klasse von Athen sey daran gewöhnt gewesen, das Geschlecht im gemeinen Leben mit Verachtung behandelt zu sehen. Fänden wir hingegen, daß die Frau auf der Bühne das Publikum durch Tugenden hätte interessieren können, die kaum auf dem Theater von Paris in einem höhern Lichte erscheinen; so dürften wir eben so wohl sicher glauben, daß die gebildetere Klasse der Athenienser diesen moralischen Werth nicht unvereinbar mit dem zärteren Geschlechte gehalten habe, und in diesem Glauben durch einzelne, der Heldin auf der Bühne sich annähernde Beyspiele im gemeinen Leben, unterstützt sey.</p> <p>Sicher können wir ferner annehmen, daß die Betrachtungen über dargestellte Charaktere und Handlungen, welche den Chören in den Mund gelegt werden, gemeiniglich nach der Denkungsart der Zuschauer und nach ihren lokalen Sitten eingerichtet sind. Das Chor hat oft die Bestimmung, die entfernten Begebenheiten auf die jetzigen Verhältnisse der Zuschauer zurück zu führen. Wir dürfen daher besonders </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [60/0060]
sich nie so weit von der herrschenden Denkungsart und den Sitten der gebildeteren Klasse ihrer Zuschauer haben entfernen dürfen, um die Helden und Heldinnen, die sie auftreten ließen, als Geschöpfe aus einer ganz fremden Welt erscheinen zu lassen. So etwas würden wir nicht leiden, und der Athenienser litt es gewiß noch weniger. Die dargestellten Personen mußten so denken, so empfinden und so handeln, daß der Zuschauer ihre Existenz bey und neben sich als möglich ahnen konnte. Wenn wir daher die Frau in einem Zustande von orientalischer Erniedrigung dargestellt finden sollten; so dürften wir gewiß glauben, die gebildete Klasse von Athen sey daran gewöhnt gewesen, das Geschlecht im gemeinen Leben mit Verachtung behandelt zu sehen. Fänden wir hingegen, daß die Frau auf der Bühne das Publikum durch Tugenden hätte interessieren können, die kaum auf dem Theater von Paris in einem höhern Lichte erscheinen; so dürften wir eben so wohl sicher glauben, daß die gebildetere Klasse der Athenienser diesen moralischen Werth nicht unvereinbar mit dem zärteren Geschlechte gehalten habe, und in diesem Glauben durch einzelne, der Heldin auf der Bühne sich annähernde Beyspiele im gemeinen Leben, unterstützt sey.
Sicher können wir ferner annehmen, daß die Betrachtungen über dargestellte Charaktere und Handlungen, welche den Chören in den Mund gelegt werden, gemeiniglich nach der Denkungsart der Zuschauer und nach ihren lokalen Sitten eingerichtet sind. Das Chor hat oft die Bestimmung, die entfernten Begebenheiten auf die jetzigen Verhältnisse der Zuschauer zurück zu führen. Wir dürfen daher besonders
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