Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite

Bey einem Feste des Apollo verliebt sich Theagenes, ein Thessalischer Fürst, in die Chariklea, beym ersten Anblick, und auch sie empfindet sogleich den Eindruck der stärksten Leidenschaft. "Ihre Seelen, sagt der Verfasser, schienen sich wieder zu kennen, und im Gefühl ihrer gegenseitigen Würde und Vortrefflichkeit einander entgegen zu streben. Sie staunten sich an, sie lächelten sich zu, sie errötheten und erblaßten."

Stark wird die Wirkung der Leidenschaft bey beyden Liebenden geschildert; aber doch weit heftiger noch bey Chariklea, nicht bloß weil sie ihre Neigung in sich verschließt, sondern weil sie überhaupt viel lebhafter dargestellt wird als Theagenes. Aber nicht bloß lebhafter, sondern auch thätiger, gefaßter, klüger, als der Liebhaber, ist die Geliebte. Ein wichtiger Zug zur Charakterisierung des Zeitalters: nicht minder wichtig jener andre, daß es dem Theagenes zum Verdienst gerechnet wird, bisher alle Weiber geflohen zu haben.

Bey einem öffentlichen Wettrennen empfängt Theagenes den Preis aus der geliebten Hand, die er küßt. Welch ein mächtiger Beweis der veränderten Sitten!

Calasiris, ein Priester der Isis, (und zwar ein echter Priester, der sich Lug, Betrug, Mord und Entführung erlaubt, sobald es darauf ankommt, den Willen der Götter in Erfüllung zu bringen,) wird der Vertraute der beyden Liebenden, und befördert auf die Autorität eines Orakels, das ihre Verbindung verkündigt, die Entführung der Chariklea durch den Theagenes. Doch muß dieser seiner Geliebten vorher schwören, daß er die Rechte des Gatten nicht eher ausüben wolle, als bis diese in ihrer Heimath auf eine gesetzliche Art bestätigt werden würden. Und nun verläßt Chariklea

Bey einem Feste des Apollo verliebt sich Theagenes, ein Thessalischer Fürst, in die Chariklea, beym ersten Anblick, und auch sie empfindet sogleich den Eindruck der stärksten Leidenschaft. „Ihre Seelen, sagt der Verfasser, schienen sich wieder zu kennen, und im Gefühl ihrer gegenseitigen Würde und Vortrefflichkeit einander entgegen zu streben. Sie staunten sich an, sie lächelten sich zu, sie errötheten und erblaßten.“

Stark wird die Wirkung der Leidenschaft bey beyden Liebenden geschildert; aber doch weit heftiger noch bey Chariklea, nicht bloß weil sie ihre Neigung in sich verschließt, sondern weil sie überhaupt viel lebhafter dargestellt wird als Theagenes. Aber nicht bloß lebhafter, sondern auch thätiger, gefaßter, klüger, als der Liebhaber, ist die Geliebte. Ein wichtiger Zug zur Charakterisierung des Zeitalters: nicht minder wichtig jener andre, daß es dem Theagenes zum Verdienst gerechnet wird, bisher alle Weiber geflohen zu haben.

Bey einem öffentlichen Wettrennen empfängt Theagenes den Preis aus der geliebten Hand, die er küßt. Welch ein mächtiger Beweis der veränderten Sitten!

Calasiris, ein Priester der Isis, (und zwar ein echter Priester, der sich Lug, Betrug, Mord und Entführung erlaubt, sobald es darauf ankommt, den Willen der Götter in Erfüllung zu bringen,) wird der Vertraute der beyden Liebenden, und befördert auf die Autorität eines Orakels, das ihre Verbindung verkündigt, die Entführung der Chariklea durch den Theagenes. Doch muß dieser seiner Geliebten vorher schwören, daß er die Rechte des Gatten nicht eher ausüben wolle, als bis diese in ihrer Heimath auf eine gesetzliche Art bestätigt werden würden. Und nun verläßt Chariklea

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0409" n="409"/>
          <p>Bey einem Feste des Apollo verliebt sich Theagenes, ein Thessalischer Fürst, in die Chariklea, beym ersten Anblick, und auch sie empfindet sogleich den Eindruck der stärksten Leidenschaft. &#x201E;Ihre Seelen, sagt der Verfasser, schienen sich wieder zu kennen, und im Gefühl ihrer gegenseitigen Würde und Vortrefflichkeit einander entgegen zu streben. Sie staunten sich an, sie lächelten sich zu, sie errötheten und erblaßten.&#x201C;</p>
          <p>Stark wird die Wirkung der Leidenschaft bey beyden Liebenden geschildert; aber doch weit heftiger noch bey Chariklea, nicht bloß weil sie ihre Neigung in sich verschließt, sondern weil sie überhaupt viel lebhafter dargestellt wird als Theagenes. Aber nicht bloß lebhafter, sondern auch thätiger, gefaßter, klüger, als der Liebhaber, ist die Geliebte. Ein wichtiger Zug zur Charakterisierung des Zeitalters: nicht minder wichtig jener andre, daß es dem Theagenes zum Verdienst gerechnet wird, bisher alle Weiber geflohen zu haben.</p>
          <p>Bey einem öffentlichen Wettrennen empfängt Theagenes den Preis aus der geliebten Hand, die er küßt. Welch ein mächtiger Beweis der veränderten Sitten!</p>
          <p>Calasiris, ein Priester der Isis, (und zwar ein echter Priester, der sich Lug, Betrug, Mord und Entführung erlaubt, sobald es darauf ankommt, den Willen der Götter in Erfüllung zu bringen,) wird der Vertraute der beyden Liebenden, und befördert auf die Autorität eines Orakels, das ihre Verbindung verkündigt, die Entführung der Chariklea durch den Theagenes. Doch muß dieser seiner Geliebten vorher schwören, daß er die Rechte des Gatten nicht eher ausüben wolle, als bis diese in ihrer Heimath auf eine gesetzliche Art bestätigt werden würden. Und nun verläßt Chariklea
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[409/0409] Bey einem Feste des Apollo verliebt sich Theagenes, ein Thessalischer Fürst, in die Chariklea, beym ersten Anblick, und auch sie empfindet sogleich den Eindruck der stärksten Leidenschaft. „Ihre Seelen, sagt der Verfasser, schienen sich wieder zu kennen, und im Gefühl ihrer gegenseitigen Würde und Vortrefflichkeit einander entgegen zu streben. Sie staunten sich an, sie lächelten sich zu, sie errötheten und erblaßten.“ Stark wird die Wirkung der Leidenschaft bey beyden Liebenden geschildert; aber doch weit heftiger noch bey Chariklea, nicht bloß weil sie ihre Neigung in sich verschließt, sondern weil sie überhaupt viel lebhafter dargestellt wird als Theagenes. Aber nicht bloß lebhafter, sondern auch thätiger, gefaßter, klüger, als der Liebhaber, ist die Geliebte. Ein wichtiger Zug zur Charakterisierung des Zeitalters: nicht minder wichtig jener andre, daß es dem Theagenes zum Verdienst gerechnet wird, bisher alle Weiber geflohen zu haben. Bey einem öffentlichen Wettrennen empfängt Theagenes den Preis aus der geliebten Hand, die er küßt. Welch ein mächtiger Beweis der veränderten Sitten! Calasiris, ein Priester der Isis, (und zwar ein echter Priester, der sich Lug, Betrug, Mord und Entführung erlaubt, sobald es darauf ankommt, den Willen der Götter in Erfüllung zu bringen,) wird der Vertraute der beyden Liebenden, und befördert auf die Autorität eines Orakels, das ihre Verbindung verkündigt, die Entführung der Chariklea durch den Theagenes. Doch muß dieser seiner Geliebten vorher schwören, daß er die Rechte des Gatten nicht eher ausüben wolle, als bis diese in ihrer Heimath auf eine gesetzliche Art bestätigt werden würden. Und nun verläßt Chariklea

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-20T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-20T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-20T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Geviertstriche (—) wurden durch Halbgeviertstriche ersetzt (–).
  • Übergeschriebenes „e“ über „a“, „o“ und „u“ wird als moderner Umlaut (ä, ö, ü) transkribiert.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/409
Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/409>, abgerufen am 23.11.2024.