Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite

des Geschlechtstriebes wird auf eine geheimnißvolle Art entwickelt, und sein Wirken mit der größten Stärke geschildert. Der Dichter verfährt also bey der Einführung in die Geheimnisse der Liebe, wie die Vorsteher Eleusinischer Mysterien bey der Einweihung in diese. Die Einbildungskraft des Einzuweihenden wird beflügelt, und er staunt das Gewöhnliche, Bekannte, Niedrige, als etwas Auffallendes, Neues und Heiliges an.

Dieser Kunstgriff ist in neueren Zeiten mehrmahls wiederhohlt worden.

Catull fühlt den Unterschied zwischen Zärtlichkeit und leidenschaftlicher Begierde, und nennt die letzte Liebe. 2) Natürlich hält er den Zorn und die Eifersucht des Mädchens für den sichersten Beweis derselben. 3)

Dieser Dichter lehrt uns vielleicht besser als jeder andere, wie der spielende Zeitvertreib, den die Vertraulichkeit zweyer Liebenden gewährt, von ihren körperlichen Freuden und von der Unterhaltung ihres Geistes noch verschieden sey. Er arbeitet für das niedere Seelenwesen; aber freylich unter Leitung eines feinen Sinns für das wahre Schöne. Wie weiß er aus den gewöhnlichen Vorfällen unter den Liebenden, aus dem Zählen der Küsse, aus den Versicherungen der Liebe, sogar aus dem Tode eines Sperlings einen Stoff zu ziehen, bey dessen Bearbeitung sich die Feinheit seines Gefühls, aber auch das Muntere seiner

2) Carmen 72. Cogit amare magis, sed bene velle minus. Vergl. Carm. 75. Carm. 85.
3) Carm. 83. und 92.

des Geschlechtstriebes wird auf eine geheimnißvolle Art entwickelt, und sein Wirken mit der größten Stärke geschildert. Der Dichter verfährt also bey der Einführung in die Geheimnisse der Liebe, wie die Vorsteher Eleusinischer Mysterien bey der Einweihung in diese. Die Einbildungskraft des Einzuweihenden wird beflügelt, und er staunt das Gewöhnliche, Bekannte, Niedrige, als etwas Auffallendes, Neues und Heiliges an.

Dieser Kunstgriff ist in neueren Zeiten mehrmahls wiederhohlt worden.

Catull fühlt den Unterschied zwischen Zärtlichkeit und leidenschaftlicher Begierde, und nennt die letzte Liebe. 2) Natürlich hält er den Zorn und die Eifersucht des Mädchens für den sichersten Beweis derselben. 3)

Dieser Dichter lehrt uns vielleicht besser als jeder andere, wie der spielende Zeitvertreib, den die Vertraulichkeit zweyer Liebenden gewährt, von ihren körperlichen Freuden und von der Unterhaltung ihres Geistes noch verschieden sey. Er arbeitet für das niedere Seelenwesen; aber freylich unter Leitung eines feinen Sinns für das wahre Schöne. Wie weiß er aus den gewöhnlichen Vorfällen unter den Liebenden, aus dem Zählen der Küsse, aus den Versicherungen der Liebe, sogar aus dem Tode eines Sperlings einen Stoff zu ziehen, bey dessen Bearbeitung sich die Feinheit seines Gefühls, aber auch das Muntere seiner

2) Carmen 72. Cogit amare magis, sed bene velle minus. Vergl. Carm. 75. Carm. 85.
3) Carm. 83. und 92.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0298" n="298"/>
des Geschlechtstriebes wird auf eine geheimnißvolle Art entwickelt, und sein Wirken mit der größten Stärke geschildert. Der Dichter verfährt also bey der Einführung in die Geheimnisse der Liebe, wie die Vorsteher Eleusinischer Mysterien bey der Einweihung in diese. Die Einbildungskraft des Einzuweihenden wird beflügelt, und er staunt das Gewöhnliche, Bekannte, Niedrige, als etwas Auffallendes, Neues und Heiliges an.</p>
          <p>Dieser Kunstgriff ist in neueren Zeiten mehrmahls wiederhohlt worden.</p>
          <p>Catull fühlt den Unterschied zwischen Zärtlichkeit und leidenschaftlicher Begierde, und nennt die letzte Liebe. <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">Carmen</hi> 72. Cogit amare magis, sed bene velle minus.</hi> Vergl. <hi rendition="#aq">Carm. 75. Carm. 85.</hi></note> Natürlich hält er den Zorn und die Eifersucht des Mädchens für den sichersten Beweis derselben. <note place="foot" n="3)"><hi rendition="#aq">Carm. 83.</hi> und <hi rendition="#aq">92.</hi></note></p>
          <p>Dieser Dichter lehrt uns vielleicht besser als jeder andere, wie der spielende Zeitvertreib, den die Vertraulichkeit zweyer Liebenden gewährt, von ihren körperlichen Freuden und von der Unterhaltung ihres Geistes noch verschieden sey. Er arbeitet für das niedere Seelenwesen; aber freylich unter Leitung eines feinen Sinns für das wahre Schöne. Wie weiß er aus den gewöhnlichen Vorfällen unter den Liebenden, aus dem Zählen der Küsse, aus den Versicherungen der Liebe, sogar aus dem Tode eines Sperlings einen Stoff zu ziehen, bey dessen Bearbeitung sich die Feinheit seines Gefühls, aber auch das Muntere seiner
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[298/0298] des Geschlechtstriebes wird auf eine geheimnißvolle Art entwickelt, und sein Wirken mit der größten Stärke geschildert. Der Dichter verfährt also bey der Einführung in die Geheimnisse der Liebe, wie die Vorsteher Eleusinischer Mysterien bey der Einweihung in diese. Die Einbildungskraft des Einzuweihenden wird beflügelt, und er staunt das Gewöhnliche, Bekannte, Niedrige, als etwas Auffallendes, Neues und Heiliges an. Dieser Kunstgriff ist in neueren Zeiten mehrmahls wiederhohlt worden. Catull fühlt den Unterschied zwischen Zärtlichkeit und leidenschaftlicher Begierde, und nennt die letzte Liebe. 2) Natürlich hält er den Zorn und die Eifersucht des Mädchens für den sichersten Beweis derselben. 3) Dieser Dichter lehrt uns vielleicht besser als jeder andere, wie der spielende Zeitvertreib, den die Vertraulichkeit zweyer Liebenden gewährt, von ihren körperlichen Freuden und von der Unterhaltung ihres Geistes noch verschieden sey. Er arbeitet für das niedere Seelenwesen; aber freylich unter Leitung eines feinen Sinns für das wahre Schöne. Wie weiß er aus den gewöhnlichen Vorfällen unter den Liebenden, aus dem Zählen der Küsse, aus den Versicherungen der Liebe, sogar aus dem Tode eines Sperlings einen Stoff zu ziehen, bey dessen Bearbeitung sich die Feinheit seines Gefühls, aber auch das Muntere seiner 2) Carmen 72. Cogit amare magis, sed bene velle minus. Vergl. Carm. 75. Carm. 85. 3) Carm. 83. und 92.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-20T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-20T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-20T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Geviertstriche (—) wurden durch Halbgeviertstriche ersetzt (–).
  • Übergeschriebenes „e“ über „a“, „o“ und „u“ wird als moderner Umlaut (ä, ö, ü) transkribiert.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/298
Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/298>, abgerufen am 22.11.2024.