Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.aber jedes für sich viel stärker, wie jetzt, und in ihrem Uebermuthe empörten sie sich gegen die Götter. Zevs strafte sie, indem er sie spaltete. So entstanden aus jedem einzelnen Manne zwey Männer, aus jeder einzelnen Frau zwey Frauen, und aus jedem Androgyn zwey Androgynen. Nachdem dieser Durchschnitt unsers Wesens glücklich vollbracht war, fingen die getrennten Hälften an, sich nach einander zu sehnen, umschlossen sich mit ihren Armen so fest, und hingen so innig an einander, als wollten sie wieder in ein Wesen zusammenfließen. Keine wollte ohne die andere etwas verrichten, und so starben sie endlich mit einander aus Hunger und Unthätigkeit. Jupiter ließ sich endlich der armen Sterblichen erbarmen. Er traf die Einrichtung, daß die Menschen durch vollständige Begattung, oder wenigstens durch Befriedigung der Lüsternheit, auf eine Zeitlang ihre Leidenschaft gemildert sähen, Zeit und Ruhe erhielten, auf nützliche Geschäfte zu denken, und für ihren Unterhalt zu sorgen. Seitdem ist die Liebe ein Naturtrieb der Menschen: Ein Drang, die ursprüngliche Beschaffenheit wieder herzustellen, zwey Wesen in Eins zu verbinden, und die Verstümmelung der menschlichen Natur wieder aufzuheben. Jeder von uns ist nur ein Fragment von einem Menschen, und Jeder sucht seine von ihm getrennte Hälfte. Nun sind aber einige Hälften der eigentlichen Zwitter, die zweyerley Geschlecht hatten. Der männliche Theil von diesen liebt die Weiber, und diese Classe hat uns die meisten Buhler geliefert, so wie der weibliche Theil von ihnen, der die Männer liebt, die meisten Buhlerinnen. Die Hälften der ehemahligen Doppelweiber sind gleichgültig gegen die Männer, und lieben nur ihr eigenes Geschlecht; aber jedes für sich viel stärker, wie jetzt, und in ihrem Uebermuthe empörten sie sich gegen die Götter. Zevs strafte sie, indem er sie spaltete. So entstanden aus jedem einzelnen Manne zwey Männer, aus jeder einzelnen Frau zwey Frauen, und aus jedem Androgyn zwey Androgynen. Nachdem dieser Durchschnitt unsers Wesens glücklich vollbracht war, fingen die getrennten Hälften an, sich nach einander zu sehnen, umschlossen sich mit ihren Armen so fest, und hingen so innig an einander, als wollten sie wieder in ein Wesen zusammenfließen. Keine wollte ohne die andere etwas verrichten, und so starben sie endlich mit einander aus Hunger und Unthätigkeit. Jupiter ließ sich endlich der armen Sterblichen erbarmen. Er traf die Einrichtung, daß die Menschen durch vollständige Begattung, oder wenigstens durch Befriedigung der Lüsternheit, auf eine Zeitlang ihre Leidenschaft gemildert sähen, Zeit und Ruhe erhielten, auf nützliche Geschäfte zu denken, und für ihren Unterhalt zu sorgen. Seitdem ist die Liebe ein Naturtrieb der Menschen: Ein Drang, die ursprüngliche Beschaffenheit wieder herzustellen, zwey Wesen in Eins zu verbinden, und die Verstümmelung der menschlichen Natur wieder aufzuheben. Jeder von uns ist nur ein Fragment von einem Menschen, und Jeder sucht seine von ihm getrennte Hälfte. Nun sind aber einige Hälften der eigentlichen Zwitter, die zweyerley Geschlecht hatten. Der männliche Theil von diesen liebt die Weiber, und diese Classe hat uns die meisten Buhler geliefert, so wie der weibliche Theil von ihnen, der die Männer liebt, die meisten Buhlerinnen. 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Er traf die Einrichtung, daß die Menschen durch vollständige Begattung, oder wenigstens durch Befriedigung der Lüsternheit, auf eine Zeitlang ihre Leidenschaft gemildert sähen, Zeit und Ruhe erhielten, auf nützliche Geschäfte zu denken, und für ihren Unterhalt zu sorgen. Seitdem ist die Liebe ein Naturtrieb der Menschen: Ein Drang, die ursprüngliche Beschaffenheit wieder herzustellen, zwey Wesen in Eins zu verbinden, und die Verstümmelung der menschlichen Natur wieder aufzuheben. Jeder von uns ist nur ein Fragment von einem Menschen, und Jeder sucht seine von ihm getrennte Hälfte. Nun sind aber einige Hälften der eigentlichen Zwitter, die zweyerley Geschlecht hatten. Der männliche Theil von diesen liebt die Weiber, und diese Classe hat uns die meisten Buhler geliefert, so wie der weibliche Theil von ihnen, der die Männer liebt, die meisten Buhlerinnen. 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aber jedes für sich viel stärker, wie jetzt, und in ihrem Uebermuthe empörten sie sich gegen die Götter. Zevs strafte sie, indem er sie spaltete. So entstanden aus jedem einzelnen Manne zwey Männer, aus jeder einzelnen Frau zwey Frauen, und aus jedem Androgyn zwey Androgynen. Nachdem dieser Durchschnitt unsers Wesens glücklich vollbracht war, fingen die getrennten Hälften an, sich nach einander zu sehnen, umschlossen sich mit ihren Armen so fest, und hingen so innig an einander, als wollten sie wieder in ein Wesen zusammenfließen. Keine wollte ohne die andere etwas verrichten, und so starben sie endlich mit einander aus Hunger und Unthätigkeit. Jupiter ließ sich endlich der armen Sterblichen erbarmen. Er traf die Einrichtung, daß die Menschen durch vollständige Begattung, oder wenigstens durch Befriedigung der Lüsternheit, auf eine Zeitlang ihre Leidenschaft gemildert sähen, Zeit und Ruhe erhielten, auf nützliche Geschäfte zu denken, und für ihren Unterhalt zu sorgen. Seitdem ist die Liebe ein Naturtrieb der Menschen: Ein Drang, die ursprüngliche Beschaffenheit wieder herzustellen, zwey Wesen in Eins zu verbinden, und die Verstümmelung der menschlichen Natur wieder aufzuheben. Jeder von uns ist nur ein Fragment von einem Menschen, und Jeder sucht seine von ihm getrennte Hälfte. Nun sind aber einige Hälften der eigentlichen Zwitter, die zweyerley Geschlecht hatten. Der männliche Theil von diesen liebt die Weiber, und diese Classe hat uns die meisten Buhler geliefert, so wie der weibliche Theil von ihnen, der die Männer liebt, die meisten Buhlerinnen. Die Hälften der ehemahligen Doppelweiber sind gleichgültig gegen die Männer, und lieben nur ihr eigenes Geschlecht;
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Zitationshilfe: | Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/202>, abgerufen am 16.02.2025. |