Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.Begierden sich gar nicht melden. Die keusche Liebe des Callias zum Autolykus war ja ganz etwas anders, als die Freundschaft, welche er für seine Schüler empfand: und er konnte die schmachtende Sehnsucht, die schmelzende Begeisterung, die darin lagen, nicht verkennen. Demungeachtet billigt er diese Liebe. Wie nun? Wie ist Sokrates von diesem Widerspruche mit sich selbst zu retten? Mich dünkt, auf folgende Art: Er sah der Schwäche seiner Schüler nach, wenn diese nur durch Rücksichten auf Pflicht und Anstand geleitet wurde: er rechnete darauf, daß verhaltene Triebe, welche die körperliche Gestalt einflößte, die Begeisterung erhöhen und verstärken würden, und nutzte diese, um darauf Verbindungen zu gründen, die höhere Bürgertugend befördern, und sich endlich in bloße Freundschaft auflösen könnten. Fünftes Kapitel. Denkungsart des Plato über edlere und schönere Männerliebe, nach seinem Phädrus. Wir haben vom Plato zwey Dialogen über diesen Gegenstand. Der erste ist unter dem Nahmen des Phädrus, der andere unter dem des Gastmahls bekannt. - Der erste scheint in früheren Jahren, der letzte in der Reife des Alters geschrieben zu seyn. Ich fange meine Untersuchung mit dem Phädrus an. Begierden sich gar nicht melden. Die keusche Liebe des Callias zum Autolykus war ja ganz etwas anders, als die Freundschaft, welche er für seine Schüler empfand: und er konnte die schmachtende Sehnsucht, die schmelzende Begeisterung, die darin lagen, nicht verkennen. Demungeachtet billigt er diese Liebe. Wie nun? Wie ist Sokrates von diesem Widerspruche mit sich selbst zu retten? Mich dünkt, auf folgende Art: Er sah der Schwäche seiner Schüler nach, wenn diese nur durch Rücksichten auf Pflicht und Anstand geleitet wurde: er rechnete darauf, daß verhaltene Triebe, welche die körperliche Gestalt einflößte, die Begeisterung erhöhen und verstärken würden, und nutzte diese, um darauf Verbindungen zu gründen, die höhere Bürgertugend befördern, und sich endlich in bloße Freundschaft auflösen könnten. Fünftes Kapitel. Denkungsart des Plato über edlere und schönere Männerliebe, nach seinem Phädrus. Wir haben vom Plato zwey Dialogen über diesen Gegenstand. Der erste ist unter dem Nahmen des Phädrus, der andere unter dem des Gastmahls bekannt. – Der erste scheint in früheren Jahren, der letzte in der Reife des Alters geschrieben zu seyn. Ich fange meine Untersuchung mit dem Phädrus an. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0173" n="173"/> Begierden sich gar nicht melden. Die keusche Liebe des Callias zum Autolykus war ja ganz etwas anders, als die Freundschaft, welche er für seine Schüler empfand: und er konnte die schmachtende Sehnsucht, die schmelzende Begeisterung, die darin lagen, nicht verkennen. Demungeachtet billigt er diese Liebe. Wie nun? Wie ist Sokrates von diesem Widerspruche mit sich selbst zu retten? Mich dünkt, auf folgende Art:</p> <p>Er sah der Schwäche seiner Schüler nach, wenn diese nur durch Rücksichten auf Pflicht und Anstand geleitet wurde: er rechnete darauf, daß verhaltene Triebe, welche die körperliche Gestalt einflößte, die Begeisterung erhöhen und verstärken würden, und nutzte diese, um darauf Verbindungen zu gründen, die höhere Bürgertugend befördern, und sich endlich in bloße Freundschaft auflösen könnten.</p> </div> <div n="2"> <head>Fünftes Kapitel.<lb/></head> <argument> <p>Denkungsart des Plato über edlere und schönere Männerliebe, nach seinem Phädrus.<lb/></p> </argument> <p>Wir haben vom Plato zwey Dialogen über diesen Gegenstand. Der erste ist unter dem Nahmen des Phädrus, der andere unter dem des Gastmahls bekannt. –</p> <p>Der erste scheint in früheren Jahren, der letzte in der Reife des Alters geschrieben zu seyn. Ich fange meine Untersuchung mit dem Phädrus an.</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [173/0173]
Begierden sich gar nicht melden. Die keusche Liebe des Callias zum Autolykus war ja ganz etwas anders, als die Freundschaft, welche er für seine Schüler empfand: und er konnte die schmachtende Sehnsucht, die schmelzende Begeisterung, die darin lagen, nicht verkennen. Demungeachtet billigt er diese Liebe. Wie nun? Wie ist Sokrates von diesem Widerspruche mit sich selbst zu retten? Mich dünkt, auf folgende Art:
Er sah der Schwäche seiner Schüler nach, wenn diese nur durch Rücksichten auf Pflicht und Anstand geleitet wurde: er rechnete darauf, daß verhaltene Triebe, welche die körperliche Gestalt einflößte, die Begeisterung erhöhen und verstärken würden, und nutzte diese, um darauf Verbindungen zu gründen, die höhere Bürgertugend befördern, und sich endlich in bloße Freundschaft auflösen könnten.
Fünftes Kapitel.
Denkungsart des Plato über edlere und schönere Männerliebe, nach seinem Phädrus.
Wir haben vom Plato zwey Dialogen über diesen Gegenstand. Der erste ist unter dem Nahmen des Phädrus, der andere unter dem des Gastmahls bekannt. –
Der erste scheint in früheren Jahren, der letzte in der Reife des Alters geschrieben zu seyn. Ich fange meine Untersuchung mit dem Phädrus an.
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