Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Zweyter Theil: Aesthetik der Liebe. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite

womit wir alle begabt sind, ohne uns davon Rechenschaft geben zu können, und ohne daß sie dem Verstande und der Vernunft als deutliche Begriffe zugeführt zu werden brauchen, sehr richtig einsehen und schätzen.

Gesetzt aber, wir fassen den Begriff der Wahrheit und Zweckmäßigkeit, wir empfinden sie mit einer Reitzung zur Lust: wie selten haben wir Sinn für Adel, Schönheit und Vollkommenheit? Es gehört Scharfsinn dazu und Phantasie!

Aber selbst unter denen, die diesen Sinn haben, werden ihn nicht alle gerade auf die Liebe anwenden! Dazu gehören wieder besondere Anlagen! Es gehört ein Herz dazu, und nicht bloß ein Herz für den einzelnen Affekt der Menschenliebe, sondern auch für die Zärtlichkeit, für Leidenschaft! Also Sinn für Wahrheit und Tüchtigkeit, Scharfsinn, Phantasie, Herz; das alles wird erfordert, um das Bild der Vollkommenheit in der Liebe wieder zu finden, und es mit Wonne anzuschauen. Wie selten wird dieß alles zusammen gehen!

Inzwischen hat es von jeher Menschen gegeben, welche diese Vollkommenheit der Liebe, theils dunkler, theils klarer angeschauet und mit Wonne empfunden haben, wenn ihre Darstellung durch die Hand des Genies vor ihnen hingezaubert ist. Aber eine solche Darstellung selbst zu schaffen, oder sie gar an sich selbst zu realisieren; wie wenigen Menschen ist das vergönnt!

Bey vielen würde es sogar mit der Bestimmung streiten, die sie gegen die größere Gesellschaft und gegen den Staat übernommen haben, wenn sie den Vollkommenheitssinn, der ihnen sonst nicht fremd seyn mag, gerade auf ihre Verhältnisse zu der einzigen geliebten Person anwenden wollten! Sie würden sich in dem Streben

womit wir alle begabt sind, ohne uns davon Rechenschaft geben zu können, und ohne daß sie dem Verstande und der Vernunft als deutliche Begriffe zugeführt zu werden brauchen, sehr richtig einsehen und schätzen.

Gesetzt aber, wir fassen den Begriff der Wahrheit und Zweckmäßigkeit, wir empfinden sie mit einer Reitzung zur Lust: wie selten haben wir Sinn für Adel, Schönheit und Vollkommenheit? Es gehört Scharfsinn dazu und Phantasie!

Aber selbst unter denen, die diesen Sinn haben, werden ihn nicht alle gerade auf die Liebe anwenden! Dazu gehören wieder besondere Anlagen! Es gehört ein Herz dazu, und nicht bloß ein Herz für den einzelnen Affekt der Menschenliebe, sondern auch für die Zärtlichkeit, für Leidenschaft! Also Sinn für Wahrheit und Tüchtigkeit, Scharfsinn, Phantasie, Herz; das alles wird erfordert, um das Bild der Vollkommenheit in der Liebe wieder zu finden, und es mit Wonne anzuschauen. Wie selten wird dieß alles zusammen gehen!

Inzwischen hat es von jeher Menschen gegeben, welche diese Vollkommenheit der Liebe, theils dunkler, theils klarer angeschauet und mit Wonne empfunden haben, wenn ihre Darstellung durch die Hand des Genies vor ihnen hingezaubert ist. Aber eine solche Darstellung selbst zu schaffen, oder sie gar an sich selbst zu realisieren; wie wenigen Menschen ist das vergönnt!

Bey vielen würde es sogar mit der Bestimmung streiten, die sie gegen die größere Gesellschaft und gegen den Staat übernommen haben, wenn sie den Vollkommenheitssinn, der ihnen sonst nicht fremd seyn mag, gerade auf ihre Verhältnisse zu der einzigen geliebten Person anwenden wollten! Sie würden sich in dem Streben

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0084" n="84"/>
womit wir alle begabt sind, ohne uns davon Rechenschaft geben zu können, und ohne daß sie dem Verstande und der Vernunft als deutliche Begriffe zugeführt zu werden brauchen, sehr richtig einsehen und schätzen.</p>
          <p>Gesetzt aber, wir fassen den Begriff der Wahrheit und Zweckmäßigkeit, wir empfinden sie mit einer Reitzung zur Lust: wie selten haben wir Sinn für Adel, Schönheit und Vollkommenheit? Es gehört Scharfsinn dazu und Phantasie!</p>
          <p>Aber selbst unter denen, die diesen Sinn haben, werden ihn nicht alle gerade auf die Liebe anwenden! Dazu gehören wieder besondere Anlagen! Es gehört ein Herz dazu, und nicht bloß ein Herz für den einzelnen Affekt der Menschenliebe, sondern auch für die Zärtlichkeit, für Leidenschaft! Also Sinn für Wahrheit und Tüchtigkeit, Scharfsinn, Phantasie, Herz; das alles wird erfordert, um das Bild der Vollkommenheit in der Liebe wieder zu finden, und es mit Wonne anzuschauen. Wie selten wird dieß alles zusammen gehen!</p>
          <p>Inzwischen hat es von jeher Menschen gegeben, welche diese Vollkommenheit der Liebe, theils dunkler, theils klarer angeschauet und mit Wonne empfunden haben, wenn ihre Darstellung durch die Hand des Genies vor ihnen hingezaubert ist. Aber eine solche Darstellung selbst zu schaffen, oder sie gar an sich selbst zu realisieren; wie wenigen Menschen ist das vergönnt!</p>
          <p>Bey vielen würde es sogar mit der Bestimmung streiten, die sie gegen die größere Gesellschaft und gegen den Staat übernommen haben, wenn sie den Vollkommenheitssinn, der ihnen sonst nicht fremd seyn mag, gerade auf ihre Verhältnisse zu der einzigen geliebten Person anwenden wollten! Sie würden sich in dem Streben
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[84/0084] womit wir alle begabt sind, ohne uns davon Rechenschaft geben zu können, und ohne daß sie dem Verstande und der Vernunft als deutliche Begriffe zugeführt zu werden brauchen, sehr richtig einsehen und schätzen. Gesetzt aber, wir fassen den Begriff der Wahrheit und Zweckmäßigkeit, wir empfinden sie mit einer Reitzung zur Lust: wie selten haben wir Sinn für Adel, Schönheit und Vollkommenheit? Es gehört Scharfsinn dazu und Phantasie! Aber selbst unter denen, die diesen Sinn haben, werden ihn nicht alle gerade auf die Liebe anwenden! Dazu gehören wieder besondere Anlagen! Es gehört ein Herz dazu, und nicht bloß ein Herz für den einzelnen Affekt der Menschenliebe, sondern auch für die Zärtlichkeit, für Leidenschaft! Also Sinn für Wahrheit und Tüchtigkeit, Scharfsinn, Phantasie, Herz; das alles wird erfordert, um das Bild der Vollkommenheit in der Liebe wieder zu finden, und es mit Wonne anzuschauen. Wie selten wird dieß alles zusammen gehen! Inzwischen hat es von jeher Menschen gegeben, welche diese Vollkommenheit der Liebe, theils dunkler, theils klarer angeschauet und mit Wonne empfunden haben, wenn ihre Darstellung durch die Hand des Genies vor ihnen hingezaubert ist. Aber eine solche Darstellung selbst zu schaffen, oder sie gar an sich selbst zu realisieren; wie wenigen Menschen ist das vergönnt! Bey vielen würde es sogar mit der Bestimmung streiten, die sie gegen die größere Gesellschaft und gegen den Staat übernommen haben, wenn sie den Vollkommenheitssinn, der ihnen sonst nicht fremd seyn mag, gerade auf ihre Verhältnisse zu der einzigen geliebten Person anwenden wollten! Sie würden sich in dem Streben

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-20T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-20T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-20T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Geviertstriche (—) wurden durch Halbgeviertstriche ersetzt (–).
  • Übergeschriebenes „e“ über „a“, „o“ und „u“ wird als moderner Umlaut (ä, ö, ü) transkribiert.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus02_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus02_1798/84
Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Zweyter Theil: Aesthetik der Liebe. Leipzig, 1798, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus02_1798/84>, abgerufen am 25.11.2024.