Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Erster Theil: Naturkunde der Liebe. Leipzig, 1798.Anhang zum fünften Buche. Erster Excurs. Ueber die Entstehungsart der Leidenschaft der Liebe. Billig fragt man: wie entsteht die Leidenschaft der Liebe? Die Beantwortung dieser Frage ist um so wichtiger, da von ihr die Beantwortung jener andern abzuhängen scheint: ob es in unserer Gewalt stehe, uns zu verlieben, ob diese Leidenschaft plötzlich erwachen könne, und wie sie endige? Aus der Darstellung, die ich von der Liebe als Leidenschaft gegeben habe, erhellet, daß eine doppelte Anlage dabey vorausgesetzt werden müsse. Wir müssen das Bewußtseyn unserer Person unter dem Bilde einer andern Person aufnehmen können; und das Streben nach dieser Art des Bewußtseyns von unserer Person muß bey uns stets herrschend werden können. Von diesen beyden Anlagen nenne ich die eine die Selbstverwandlungskraft, die andere die Figierungskraft. Es ist oben von der Aneignungskraft der Geister, und dem Zustande ihrer gelingenden Wirksamkeit, den ich Besessenheit genannt habe, weitläuftig gesprochen. Selbstverwandlungskraft ist ein höherer Grad derselben. Sie zeigt sich bey gewissen Krankheiten und beym Wahnsinn am auffallendsten, und beruht auf einer Verirrung desjenigen Vermögens in uns, welches wir Anhang zum fünften Buche. Erster Excurs. Ueber die Entstehungsart der Leidenschaft der Liebe. Billig fragt man: wie entsteht die Leidenschaft der Liebe? Die Beantwortung dieser Frage ist um so wichtiger, da von ihr die Beantwortung jener andern abzuhängen scheint: ob es in unserer Gewalt stehe, uns zu verlieben, ob diese Leidenschaft plötzlich erwachen könne, und wie sie endige? Aus der Darstellung, die ich von der Liebe als Leidenschaft gegeben habe, erhellet, daß eine doppelte Anlage dabey vorausgesetzt werden müsse. Wir müssen das Bewußtseyn unserer Person unter dem Bilde einer andern Person aufnehmen können; und das Streben nach dieser Art des Bewußtseyns von unserer Person muß bey uns stets herrschend werden können. Von diesen beyden Anlagen nenne ich die eine die Selbstverwandlungskraft, die andere die Figierungskraft. Es ist oben von der Aneignungskraft der Geister, und dem Zustande ihrer gelingenden Wirksamkeit, den ich Besessenheit genannt habe, weitläuftig gesprochen. Selbstverwandlungskraft ist ein höherer Grad derselben. Sie zeigt sich bey gewissen Krankheiten und beym Wahnsinn am auffallendsten, und beruht auf einer Verirrung desjenigen Vermögens in uns, welches wir <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0257" n="257"/> <div n="2"> <head>Anhang zum fünften Buche.<lb/></head> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <div n="3"> <head>Erster Excurs.<lb/></head> <argument> <p>Ueber die Entstehungsart der Leidenschaft der Liebe.<lb/></p> </argument> <p>Billig fragt man: wie entsteht die Leidenschaft der Liebe? Die Beantwortung dieser Frage ist um so wichtiger, da von ihr die Beantwortung jener andern abzuhängen scheint: ob es in unserer Gewalt stehe, uns zu verlieben, ob diese Leidenschaft plötzlich erwachen könne, und wie sie endige?</p> <p>Aus der Darstellung, die ich von der Liebe als Leidenschaft gegeben habe, erhellet, daß eine doppelte Anlage dabey vorausgesetzt werden müsse. Wir müssen das Bewußtseyn unserer Person unter dem Bilde einer andern Person aufnehmen können; und das Streben nach dieser Art des Bewußtseyns von unserer Person muß bey uns stets herrschend werden können.</p> <p>Von diesen beyden Anlagen nenne ich die eine die <hi rendition="#g">Selbstverwandlungskraft</hi>, die <choice><sic>anderen</sic><corr>andere</corr></choice> die <hi rendition="#g">Figierungskraft</hi>.</p> <p>Es ist oben von der Aneignungskraft der Geister, und dem Zustande ihrer gelingenden Wirksamkeit, den ich <hi rendition="#g">Besessenheit</hi> genannt habe, weitläuftig gesprochen. Selbstverwandlungskraft ist ein höherer Grad derselben. Sie zeigt sich bey gewissen Krankheiten und beym Wahnsinn am auffallendsten, und beruht auf einer Verirrung desjenigen Vermögens in uns, welches wir </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [257/0257]
Anhang zum fünften Buche.
Erster Excurs.
Ueber die Entstehungsart der Leidenschaft der Liebe.
Billig fragt man: wie entsteht die Leidenschaft der Liebe? Die Beantwortung dieser Frage ist um so wichtiger, da von ihr die Beantwortung jener andern abzuhängen scheint: ob es in unserer Gewalt stehe, uns zu verlieben, ob diese Leidenschaft plötzlich erwachen könne, und wie sie endige?
Aus der Darstellung, die ich von der Liebe als Leidenschaft gegeben habe, erhellet, daß eine doppelte Anlage dabey vorausgesetzt werden müsse. Wir müssen das Bewußtseyn unserer Person unter dem Bilde einer andern Person aufnehmen können; und das Streben nach dieser Art des Bewußtseyns von unserer Person muß bey uns stets herrschend werden können.
Von diesen beyden Anlagen nenne ich die eine die Selbstverwandlungskraft, die andere die Figierungskraft.
Es ist oben von der Aneignungskraft der Geister, und dem Zustande ihrer gelingenden Wirksamkeit, den ich Besessenheit genannt habe, weitläuftig gesprochen. Selbstverwandlungskraft ist ein höherer Grad derselben. Sie zeigt sich bey gewissen Krankheiten und beym Wahnsinn am auffallendsten, und beruht auf einer Verirrung desjenigen Vermögens in uns, welches wir
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