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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787.

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Anmerkungen
und möchte mit zur Brust gekehrten Händen sein In-
neres öffnen, und, damit der Kranke weniger litte,
einen Theil seiner Marter in sich selbst aufnehmen.
Nicht von weicherem Herzen, aber von reizbarerm
Nervenbau scheint der ältere Jünger zu seyn, der ihm
zunächst kniet: man sieht an seiner zurückschaudernden
Mine, an seinen weggekehrten Händen, daß nicht
blos seine Seele, daß auch sein Körper den Schmerz
des vor ihm Leidenden mitempfindet: Es ist der Cha-
rakter eines physisch sympathisirenden Menschen.

Hinter diesen Aposteln oder Jüngern drei andere,
in einer Unterredung begriffen. So viel man aus
den Gebärden schließt, bedauern sie, daß ihr Mei-
ster abwesend ist, und daß ihre Kräfte nicht hin-
reichen, eine so schwere Krankheit zu heilen.

Im Hintergrunde, hart am Berge, erblickt man
zwei Figuren, von denen die eine der anderen, die
eben herzu gekommen zu seyn scheint, das Süjet des
Auftritts erklärt. Beide scheinen kalte unempfind-
liche Seelen zu seyn; aber der Zuhörende hat be-
sonders einen solchen Ausdruck von stumpfen Egois-
mus, daß nur das moralische Ungeheuer, das in der
Folge seinen Wohlthäter und Lehrer um dreißig Silber-
linge verrieth, zum Voraus damit gebrandmarkt
werden konnte. Dennoch frägt es sich, ob der Künst-
ler nicht zu weit gegangen sey.

So viel über die poetische Erfindung und den
Ausdruck. Die mahlerische Anordnung ist in so fern
zu loben, daß der Raum gut genutzt ist, so viele
Personen ohne Unordnung neben einander zu vereini-
gen. Aber in Rücksicht auf leichte Uebersicht des

Ganzen

Anmerkungen
und moͤchte mit zur Bruſt gekehrten Haͤnden ſein In-
neres oͤffnen, und, damit der Kranke weniger litte,
einen Theil ſeiner Marter in ſich ſelbſt aufnehmen.
Nicht von weicherem Herzen, aber von reizbarerm
Nervenbau ſcheint der aͤltere Juͤnger zu ſeyn, der ihm
zunaͤchſt kniet: man ſieht an ſeiner zuruͤckſchaudernden
Mine, an ſeinen weggekehrten Haͤnden, daß nicht
blos ſeine Seele, daß auch ſein Koͤrper den Schmerz
des vor ihm Leidenden mitempfindet: Es iſt der Cha-
rakter eines phyſiſch ſympathiſirenden Menſchen.

Hinter dieſen Apoſteln oder Juͤngern drei andere,
in einer Unterredung begriffen. So viel man aus
den Gebaͤrden ſchließt, bedauern ſie, daß ihr Mei-
ſter abweſend iſt, und daß ihre Kraͤfte nicht hin-
reichen, eine ſo ſchwere Krankheit zu heilen.

Im Hintergrunde, hart am Berge, erblickt man
zwei Figuren, von denen die eine der anderen, die
eben herzu gekommen zu ſeyn ſcheint, das Suͤjet des
Auftritts erklaͤrt. Beide ſcheinen kalte unempfind-
liche Seelen zu ſeyn; aber der Zuhoͤrende hat be-
ſonders einen ſolchen Ausdruck von ſtumpfen Egois-
mus, daß nur das moraliſche Ungeheuer, das in der
Folge ſeinen Wohlthaͤter und Lehrer um dreißig Silber-
linge verrieth, zum Voraus damit gebrandmarkt
werden konnte. Dennoch fraͤgt es ſich, ob der Kuͤnſt-
ler nicht zu weit gegangen ſey.

So viel uͤber die poetiſche Erfindung und den
Ausdruck. Die mahleriſche Anordnung iſt in ſo fern
zu loben, daß der Raum gut genutzt iſt, ſo viele
Perſonen ohne Unordnung neben einander zu vereini-
gen. Aber in Ruͤckſicht auf leichte Ueberſicht des

Ganzen
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[328/0352] Anmerkungen und moͤchte mit zur Bruſt gekehrten Haͤnden ſein In- neres oͤffnen, und, damit der Kranke weniger litte, einen Theil ſeiner Marter in ſich ſelbſt aufnehmen. Nicht von weicherem Herzen, aber von reizbarerm Nervenbau ſcheint der aͤltere Juͤnger zu ſeyn, der ihm zunaͤchſt kniet: man ſieht an ſeiner zuruͤckſchaudernden Mine, an ſeinen weggekehrten Haͤnden, daß nicht blos ſeine Seele, daß auch ſein Koͤrper den Schmerz des vor ihm Leidenden mitempfindet: Es iſt der Cha- rakter eines phyſiſch ſympathiſirenden Menſchen. Hinter dieſen Apoſteln oder Juͤngern drei andere, in einer Unterredung begriffen. So viel man aus den Gebaͤrden ſchließt, bedauern ſie, daß ihr Mei- ſter abweſend iſt, und daß ihre Kraͤfte nicht hin- reichen, eine ſo ſchwere Krankheit zu heilen. Im Hintergrunde, hart am Berge, erblickt man zwei Figuren, von denen die eine der anderen, die eben herzu gekommen zu ſeyn ſcheint, das Suͤjet des Auftritts erklaͤrt. Beide ſcheinen kalte unempfind- liche Seelen zu ſeyn; aber der Zuhoͤrende hat be- ſonders einen ſolchen Ausdruck von ſtumpfen Egois- mus, daß nur das moraliſche Ungeheuer, das in der Folge ſeinen Wohlthaͤter und Lehrer um dreißig Silber- linge verrieth, zum Voraus damit gebrandmarkt werden konnte. Dennoch fraͤgt es ſich, ob der Kuͤnſt- ler nicht zu weit gegangen ſey. So viel uͤber die poetiſche Erfindung und den Ausdruck. Die mahleriſche Anordnung iſt in ſo fern zu loben, daß der Raum gut genutzt iſt, ſo viele Perſonen ohne Unordnung neben einander zu vereini- gen. Aber in Ruͤckſicht auf leichte Ueberſicht des Ganzen

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Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/352>, abgerufen am 22.11.2024.