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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787.

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Ueber die Kennz. des Kirchenstils
Der alte
Künstler
hebt die Ge-
stalt ins
Ideal; der
neue hält sich
an die gemei-
ne Natur:
Jener giebt
seinen Kö-
pfen den
Ausdruck
thätiger Gei-
stesgröße;
dieser duld-
samer De-
muth, oder
finsterer Ein-
gezogenheit.

Aber selbst in den Theilen des Nackenden, welche
dem neueren Künstler mit den alten zum Vorwurf
bildlicher Darstellung auf gleiche Art geblieben sind:
in den Köpfen, in den Extremitäten, treffen wir eine
wesentliche Verschiedenheit zwischen beiden an. Der
letzte scheint vermittelst des idealen Schönen immer
über die Gränze der uns bekannten Natur hinauszu-
gehen, während daß der erste nicht blos aus Unver-
mögen, sondern mit Vorbedacht bei der Darstellung
der gewöhnlichen Natur stehen bleibt.

Mehr! der Ausdruck in den Köpfen der Figuren
des mythischen Cirkels der Alten, der physiognomische,
nicht der pathalogische Charakter ist viel bedeutungs-
voller, höher, edler, als in den Köpfen der Personen
unserer Gottheit, unserer Patriarchen, Apostel und
Heiligen, welche mehrestentheils das Gepräge finste-
rer Eingezogenheit, oder duldsamer Demuth auf ih-
ren Gesichtsbildungen tragen. Es ist hier der Ort,
die Gründe dieses neuen Unterscheidungszeichen des
alten und des Kirchenstils aufzusuchen.

Die Gründe
dieser Ver-
schiedenheit
werden aus
der verschie-
denen sittli-
chen, politi-
schen und re-
ligiösen Er-
ziehung des
Menschen,
und zugleich
aus dem ver-

Einer derselben ist durch die vorhergegangene Be-
merkung angezeigt, daß die Griechen von einer schö-
neren Natur umgeben waren. Aber dieser Grund
allein erklärt nicht Alles. Die brittische Nation ist
seit langer Zeit die schönste des heutigen Europa; aber
erst spät haben diese Insulaner die Künste geliebt,
und noch jetzt ist nicht Schönheit der erste Zweck der
Bemühungen, die sie ihnen widmen.

War der physische Nervenbau der Griechen em-
pfänglicher für die Empfindung des Schönen? Es ist
nicht unwahrscheinlich. War ihre politische, sittliche
und religiöse Erziehung mehr dazu gemacht, den

Sinn
Ueber die Kennz. des Kirchenſtils
Der alte
Kuͤnſtler
hebt die Ge-
ſtalt ins
Ideal; der
neue haͤlt ſich
an die gemei-
ne Natur:
Jener giebt
ſeinen Koͤ-
pfen den
Ausdruck
thaͤtiger Gei-
ſtesgroͤße;
dieſer duld-
ſamer De-
muth, oder
finſterer Ein-
gezogenheit.

Aber ſelbſt in den Theilen des Nackenden, welche
dem neueren Kuͤnſtler mit den alten zum Vorwurf
bildlicher Darſtellung auf gleiche Art geblieben ſind:
in den Koͤpfen, in den Extremitaͤten, treffen wir eine
weſentliche Verſchiedenheit zwiſchen beiden an. Der
letzte ſcheint vermittelſt des idealen Schoͤnen immer
uͤber die Graͤnze der uns bekannten Natur hinauszu-
gehen, waͤhrend daß der erſte nicht blos aus Unver-
moͤgen, ſondern mit Vorbedacht bei der Darſtellung
der gewoͤhnlichen Natur ſtehen bleibt.

Mehr! der Ausdruck in den Koͤpfen der Figuren
des mythiſchen Cirkels der Alten, der phyſiognomiſche,
nicht der pathalogiſche Charakter iſt viel bedeutungs-
voller, hoͤher, edler, als in den Koͤpfen der Perſonen
unſerer Gottheit, unſerer Patriarchen, Apoſtel und
Heiligen, welche mehreſtentheils das Gepraͤge finſte-
rer Eingezogenheit, oder duldſamer Demuth auf ih-
ren Geſichtsbildungen tragen. Es iſt hier der Ort,
die Gruͤnde dieſes neuen Unterſcheidungszeichen des
alten und des Kirchenſtils aufzuſuchen.

Die Gruͤnde
dieſer Ver-
ſchiedenheit
werden aus
der verſchie-
denen ſittli-
chen, politi-
ſchen und re-
ligioͤſen Er-
ziehung des
Menſchen,
und zugleich
aus dem ver-

Einer derſelben iſt durch die vorhergegangene Be-
merkung angezeigt, daß die Griechen von einer ſchoͤ-
neren Natur umgeben waren. Aber dieſer Grund
allein erklaͤrt nicht Alles. Die brittiſche Nation iſt
ſeit langer Zeit die ſchoͤnſte des heutigen Europa; aber
erſt ſpaͤt haben dieſe Inſulaner die Kuͤnſte geliebt,
und noch jetzt iſt nicht Schoͤnheit der erſte Zweck der
Bemuͤhungen, die ſie ihnen widmen.

War der phyſiſche Nervenbau der Griechen em-
pfaͤnglicher fuͤr die Empfindung des Schoͤnen? Es iſt
nicht unwahrſcheinlich. War ihre politiſche, ſittliche
und religioͤſe Erziehung mehr dazu gemacht, den

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[180/0204] Ueber die Kennz. des Kirchenſtils Aber ſelbſt in den Theilen des Nackenden, welche dem neueren Kuͤnſtler mit den alten zum Vorwurf bildlicher Darſtellung auf gleiche Art geblieben ſind: in den Koͤpfen, in den Extremitaͤten, treffen wir eine weſentliche Verſchiedenheit zwiſchen beiden an. Der letzte ſcheint vermittelſt des idealen Schoͤnen immer uͤber die Graͤnze der uns bekannten Natur hinauszu- gehen, waͤhrend daß der erſte nicht blos aus Unver- moͤgen, ſondern mit Vorbedacht bei der Darſtellung der gewoͤhnlichen Natur ſtehen bleibt. Mehr! der Ausdruck in den Koͤpfen der Figuren des mythiſchen Cirkels der Alten, der phyſiognomiſche, nicht der pathalogiſche Charakter iſt viel bedeutungs- voller, hoͤher, edler, als in den Koͤpfen der Perſonen unſerer Gottheit, unſerer Patriarchen, Apoſtel und Heiligen, welche mehreſtentheils das Gepraͤge finſte- rer Eingezogenheit, oder duldſamer Demuth auf ih- ren Geſichtsbildungen tragen. Es iſt hier der Ort, die Gruͤnde dieſes neuen Unterſcheidungszeichen des alten und des Kirchenſtils aufzuſuchen. Einer derſelben iſt durch die vorhergegangene Be- merkung angezeigt, daß die Griechen von einer ſchoͤ- neren Natur umgeben waren. Aber dieſer Grund allein erklaͤrt nicht Alles. Die brittiſche Nation iſt ſeit langer Zeit die ſchoͤnſte des heutigen Europa; aber erſt ſpaͤt haben dieſe Inſulaner die Kuͤnſte geliebt, und noch jetzt iſt nicht Schoͤnheit der erſte Zweck der Bemuͤhungen, die ſie ihnen widmen. War der phyſiſche Nervenbau der Griechen em- pfaͤnglicher fuͤr die Empfindung des Schoͤnen? Es iſt nicht unwahrſcheinlich. War ihre politiſche, ſittliche und religioͤſe Erziehung mehr dazu gemacht, den Sinn

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Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787, S. 180. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/204>, abgerufen am 23.11.2024.