Das Genie, das die Kunst aufnimmt, wenn sie das Alter der Kindheit verlassen hat, fürchtet noch keine Vergleichung, keinen bestimmten Geschmack, keine festgesetzte Begriffe über Wahrscheinlichkeit unter seinen Zeitgenossen. Findet es wie Raphael, daß Zeichnung und Ausdruck die Wege sind, von der Darstellung eines lebenden Wesens zu überzeugen, es geht ihnen nach: sieht es wie Correggio den Zauber der Harmonie und des Helldunkeln für die würksam- sten Ueberredungsmittel an, es ergreift sie: und hält es endlich, wie Tizian, die Färbung für den wesent- lichen Theil der Nachahmung; gut! so wendet es alle seine Kräfte an, sich diesen zu eigen zu machen. Es liefert mithin die Gegenstände, wie es sie sieht, und da es dem großen Haufen, der immer blindlings folgt, im Wahrnehmen vorgeht, so leitet es dessen Auge nach Gefallen.
Nicht so der Nachfolger, und würde er ein Ra- phael, Tizian und Correggio mit allen ihren Anlagen aufs neue gebohren, er kann nicht sie seyn, weil er nach ihnen kömmt, weil ihm die Unbefangenheit fehlt, die Sicherheit, die Freiheit seiner eigenen Anschau- ungsart zu folgen. Ihm fallen die Contouren der Form am meisten auf, aber weil er in Venedig wohnt, so muß er seine Kräfte aufs Colorit wenden: Er fühlt wie Correggio, aber er lebt in Rom und mahlt wie Raphael. Leuchtet es nicht klar in die Augen, daß derjenige, der einen bestimmten Stil vor sich sieht, der schon Glück gemacht hat, nur mit der äus- sersten Aengstlichkeit einen andern wählen dürfe, der nur ihm der wahre scheint; einen Stil, der, wenn er auch der wahre seyn sollte, in einer Kunst, deren Wahr-
heit
Pallaſt
Das Genie, das die Kunſt aufnimmt, wenn ſie das Alter der Kindheit verlaſſen hat, fuͤrchtet noch keine Vergleichung, keinen beſtimmten Geſchmack, keine feſtgeſetzte Begriffe uͤber Wahrſcheinlichkeit unter ſeinen Zeitgenoſſen. Findet es wie Raphael, daß Zeichnung und Ausdruck die Wege ſind, von der Darſtellung eines lebenden Weſens zu uͤberzeugen, es geht ihnen nach: ſieht es wie Correggio den Zauber der Harmonie und des Helldunkeln fuͤr die wuͤrkſam- ſten Ueberredungsmittel an, es ergreift ſie: und haͤlt es endlich, wie Tizian, die Faͤrbung fuͤr den weſent- lichen Theil der Nachahmung; gut! ſo wendet es alle ſeine Kraͤfte an, ſich dieſen zu eigen zu machen. Es liefert mithin die Gegenſtaͤnde, wie es ſie ſieht, und da es dem großen Haufen, der immer blindlings folgt, im Wahrnehmen vorgeht, ſo leitet es deſſen Auge nach Gefallen.
Nicht ſo der Nachfolger, und wuͤrde er ein Ra- phael, Tizian und Correggio mit allen ihren Anlagen aufs neue gebohren, er kann nicht ſie ſeyn, weil er nach ihnen koͤmmt, weil ihm die Unbefangenheit fehlt, die Sicherheit, die Freiheit ſeiner eigenen Anſchau- ungsart zu folgen. Ihm fallen die Contouren der Form am meiſten auf, aber weil er in Venedig wohnt, ſo muß er ſeine Kraͤfte aufs Colorit wenden: Er fuͤhlt wie Correggio, aber er lebt in Rom und mahlt wie Raphael. Leuchtet es nicht klar in die Augen, daß derjenige, der einen beſtimmten Stil vor ſich ſieht, der ſchon Gluͤck gemacht hat, nur mit der aͤuſ- ſerſten Aengſtlichkeit einen andern waͤhlen duͤrfe, der nur ihm der wahre ſcheint; einen Stil, der, wenn er auch der wahre ſeyn ſollte, in einer Kunſt, deren Wahr-
heit
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Pallaſt
Das Genie, das die Kunſt aufnimmt, wenn ſie
das Alter der Kindheit verlaſſen hat, fuͤrchtet noch
keine Vergleichung, keinen beſtimmten Geſchmack,
keine feſtgeſetzte Begriffe uͤber Wahrſcheinlichkeit unter
ſeinen Zeitgenoſſen. Findet es wie Raphael, daß
Zeichnung und Ausdruck die Wege ſind, von der
Darſtellung eines lebenden Weſens zu uͤberzeugen, es
geht ihnen nach: ſieht es wie Correggio den Zauber
der Harmonie und des Helldunkeln fuͤr die wuͤrkſam-
ſten Ueberredungsmittel an, es ergreift ſie: und haͤlt
es endlich, wie Tizian, die Faͤrbung fuͤr den weſent-
lichen Theil der Nachahmung; gut! ſo wendet es alle
ſeine Kraͤfte an, ſich dieſen zu eigen zu machen. Es
liefert mithin die Gegenſtaͤnde, wie es ſie ſieht, und
da es dem großen Haufen, der immer blindlings folgt,
im Wahrnehmen vorgeht, ſo leitet es deſſen Auge
nach Gefallen.
Nicht ſo der Nachfolger, und wuͤrde er ein Ra-
phael, Tizian und Correggio mit allen ihren Anlagen
aufs neue gebohren, er kann nicht ſie ſeyn, weil er
nach ihnen koͤmmt, weil ihm die Unbefangenheit fehlt,
die Sicherheit, die Freiheit ſeiner eigenen Anſchau-
ungsart zu folgen. Ihm fallen die Contouren der
Form am meiſten auf, aber weil er in Venedig wohnt,
ſo muß er ſeine Kraͤfte aufs Colorit wenden: Er fuͤhlt
wie Correggio, aber er lebt in Rom und mahlt wie
Raphael. Leuchtet es nicht klar in die Augen, daß
derjenige, der einen beſtimmten Stil vor ſich
ſieht, der ſchon Gluͤck gemacht hat, nur mit der aͤuſ-
ſerſten Aengſtlichkeit einen andern waͤhlen duͤrfe, der
nur ihm der wahre ſcheint; einen Stil, der, wenn er
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 3. Leipzig, 1787, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei03_1787/164>, abgerufen am 22.11.2024.
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