Hieraus scheint nun so viel klar zu folgen: daß wir nicht denjenigen Moment am liebsten gemahlt sehen müssen, der sich am liebsten erzählt hören läßt. Der Mahler ist nicht Ueberlieferer geschehener Begebenheiten, der uns fragen kann, was wir vor- züglich gern von den Todesumständen des großen Germanicus erfahren möchten: sondern wir müssen ihn als einen Zauberer betrachten, der, da er die abgeschiedenen Gestalten des Germanicus, der Agrip- pina, ihrer Kinder, ihrer Freunde, zwar auf bestän- dig, aber nur unter der Bedingung erwecken kann, daß wir sie immerfort in eben der Lage sehen sollen, worin wir sie den ersten Augenblick erblicket haben, uns nun die Wahl unter verschiedenen Augenblicken läßt. Auf welchen wird sie fallen? Gewiß! Wenn wir die wahren Gränzen der Kunst nicht verkennen, und nicht unser einzelnes Vergnügen mit Aufopferung des allgemeinen besorgt wissen wollen, den, der den bestimmtesten, den vollständigsten und den abwech- selndsten Ausdruck motivirt.
Wäre die alte Art die Schauspiele aufzuführen noch gewöhnlich, wo eine andere Person sprach, eine andere den Ausdruck durch Minen, Stellung und Bewegung unterstützte; so würden die Kennzeichen des Interessanten für die Mahlerei viel leichter anzu- geben seyn. Man hätte sich nur die Ohren versto- pfen dürfen, und den Zeitpunkt, wo der Ausdruck der stummen Akteurs zugleich dem Auge verständlich und dem Geiste unterhaltend gewesen wäre, dreist als den wahren Zeitpunkt des Interessanten für die Mah- lerei angeben dürfen.
Hat
Pallaſt Barberini.
Hieraus ſcheint nun ſo viel klar zu folgen: daß wir nicht denjenigen Moment am liebſten gemahlt ſehen muͤſſen, der ſich am liebſten erzaͤhlt hoͤren laͤßt. Der Mahler iſt nicht Ueberlieferer geſchehener Begebenheiten, der uns fragen kann, was wir vor- zuͤglich gern von den Todesumſtaͤnden des großen Germanicus erfahren moͤchten: ſondern wir muͤſſen ihn als einen Zauberer betrachten, der, da er die abgeſchiedenen Geſtalten des Germanicus, der Agrip- pina, ihrer Kinder, ihrer Freunde, zwar auf beſtaͤn- dig, aber nur unter der Bedingung erwecken kann, daß wir ſie immerfort in eben der Lage ſehen ſollen, worin wir ſie den erſten Augenblick erblicket haben, uns nun die Wahl unter verſchiedenen Augenblicken laͤßt. Auf welchen wird ſie fallen? Gewiß! Wenn wir die wahren Graͤnzen der Kunſt nicht verkennen, und nicht unſer einzelnes Vergnuͤgen mit Aufopferung des allgemeinen beſorgt wiſſen wollen, den, der den beſtimmteſten, den vollſtaͤndigſten und den abwech- ſelndſten Ausdruck motivirt.
Waͤre die alte Art die Schauſpiele aufzufuͤhren noch gewoͤhnlich, wo eine andere Perſon ſprach, eine andere den Ausdruck durch Minen, Stellung und Bewegung unterſtuͤtzte; ſo wuͤrden die Kennzeichen des Intereſſanten fuͤr die Mahlerei viel leichter anzu- geben ſeyn. Man haͤtte ſich nur die Ohren verſto- pfen duͤrfen, und den Zeitpunkt, wo der Ausdruck der ſtummen Akteurs zugleich dem Auge verſtaͤndlich und dem Geiſte unterhaltend geweſen waͤre, dreiſt als den wahren Zeitpunkt des Intereſſanten fuͤr die Mah- lerei angeben duͤrfen.
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Pallaſt Barberini.
Hieraus ſcheint nun ſo viel klar zu folgen: daß
wir nicht denjenigen Moment am liebſten gemahlt
ſehen muͤſſen, der ſich am liebſten erzaͤhlt hoͤren
laͤßt. Der Mahler iſt nicht Ueberlieferer geſchehener
Begebenheiten, der uns fragen kann, was wir vor-
zuͤglich gern von den Todesumſtaͤnden des großen
Germanicus erfahren moͤchten: ſondern wir muͤſſen
ihn als einen Zauberer betrachten, der, da er die
abgeſchiedenen Geſtalten des Germanicus, der Agrip-
pina, ihrer Kinder, ihrer Freunde, zwar auf beſtaͤn-
dig, aber nur unter der Bedingung erwecken kann,
daß wir ſie immerfort in eben der Lage ſehen ſollen,
worin wir ſie den erſten Augenblick erblicket haben,
uns nun die Wahl unter verſchiedenen Augenblicken
laͤßt. Auf welchen wird ſie fallen? Gewiß! Wenn
wir die wahren Graͤnzen der Kunſt nicht verkennen,
und nicht unſer einzelnes Vergnuͤgen mit Aufopferung
des allgemeinen beſorgt wiſſen wollen, den, der den
beſtimmteſten, den vollſtaͤndigſten und den abwech-
ſelndſten Ausdruck motivirt.
Waͤre die alte Art die Schauſpiele aufzufuͤhren
noch gewoͤhnlich, wo eine andere Perſon ſprach, eine
andere den Ausdruck durch Minen, Stellung und
Bewegung unterſtuͤtzte; ſo wuͤrden die Kennzeichen
des Intereſſanten fuͤr die Mahlerei viel leichter anzu-
geben ſeyn. Man haͤtte ſich nur die Ohren verſto-
pfen duͤrfen, und den Zeitpunkt, wo der Ausdruck
der ſtummen Akteurs zugleich dem Auge verſtaͤndlich
und dem Geiſte unterhaltend geweſen waͤre, dreiſt als
den wahren Zeitpunkt des Intereſſanten fuͤr die Mah-
lerei angeben duͤrfen.
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787/317>, abgerufen am 16.02.2025.
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