Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite

Pallast Boccapaduli.
sitzen, schon ehemals mehr nach den Gesetzen der
Wahrscheinlichkeit als der Treue gebildet wurden.
Münzen liefern nur selten eine vollständige Idee von
Eigenthümlichkeit: und die Beschreibungen! -- Wer
weiß es nicht, daß jeder Leser sich dabei sein besonde-
res Bild denkt? daß nur körperliche Fehler als auf-
fallende Unterscheidungszeichen sich der Seele eindrü-
cken? Daß aber der Künstler sich an diese genau
halten solle, wird wohl niemand verlangen. We-
nigstens zweifle ich, daß derjenige, der bei der Dar-
stellung der berühmtesten Philosophen des Alterthums
die Nachrichten des Sidonius Apollinaris genau be-
folgen wollte, sich um unser Vergnügen sehr verdient
machen würde. 5)

Lassen Sie uns nie vergessen, daß der Zweck
der Kunst nicht Ueberlieferung der Lebensumstände
berühmter Männer, sondern Darstellung einer in-
teressanten Begebenheit aus ihrem Leben ist; daß
ich sie nur einmal sehe; daß dieses eine Mal, dieser
eine Blick, mir daher die vollständigste Auflösung
über ihre Einwürkung auf die Begebenheit geben
müsse; und daß es mithin mehr darauf ankomme,

was
5) Per gymnasia pinguntur Zeusippus cervice cur-
va, Aratus panda, Zenon fronte contracta,
Epicurus cute distenta, Diogenes barba co-
mante, Socrates coma candente, Aristoteles
brachio exserto, Xenocrates crure collecto,
Democritus risu labris apertis, Chrysippus
propter numerorum indicia constrictis, Eucli-
des propter mensurarum spatia laxatis, Clean-
thes propter utrumque corrosis.

Pallaſt Boccapaduli.
ſitzen, ſchon ehemals mehr nach den Geſetzen der
Wahrſcheinlichkeit als der Treue gebildet wurden.
Muͤnzen liefern nur ſelten eine vollſtaͤndige Idee von
Eigenthuͤmlichkeit: und die Beſchreibungen! — Wer
weiß es nicht, daß jeder Leſer ſich dabei ſein beſonde-
res Bild denkt? daß nur koͤrperliche Fehler als auf-
fallende Unterſcheidungszeichen ſich der Seele eindruͤ-
cken? Daß aber der Kuͤnſtler ſich an dieſe genau
halten ſolle, wird wohl niemand verlangen. We-
nigſtens zweifle ich, daß derjenige, der bei der Dar-
ſtellung der beruͤhmteſten Philoſophen des Alterthums
die Nachrichten des Sidonius Apollinaris genau be-
folgen wollte, ſich um unſer Vergnuͤgen ſehr verdient
machen wuͤrde. 5)

Laſſen Sie uns nie vergeſſen, daß der Zweck
der Kunſt nicht Ueberlieferung der Lebensumſtaͤnde
beruͤhmter Maͤnner, ſondern Darſtellung einer in-
tereſſanten Begebenheit aus ihrem Leben iſt; daß
ich ſie nur einmal ſehe; daß dieſes eine Mal, dieſer
eine Blick, mir daher die vollſtaͤndigſte Aufloͤſung
uͤber ihre Einwuͤrkung auf die Begebenheit geben
muͤſſe; und daß es mithin mehr darauf ankomme,

was
5) Per gymnaſia pinguntur Zeuſippus cervice cur-
va, Aratus panda, Zenon fronte contracta,
Epicurus cute diſtenta, Diogenes barba co-
mante, Socrates coma candente, Ariſtoteles
brachio exſerto, Xenocrates crure collecto,
Democritus riſu labris apertis, Chryſippus
propter numerorum indicia conſtrictis, Eucli-
des propter menſurarum ſpatia laxatis, Clean-
thes propter utrumque corroſis.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0251" n="237"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Palla&#x017F;t Boccapaduli.</hi></fw><lb/>
&#x017F;itzen, &#x017F;chon ehemals mehr nach den Ge&#x017F;etzen der<lb/>
Wahr&#x017F;cheinlichkeit als der Treue gebildet wurden.<lb/>
Mu&#x0364;nzen liefern nur &#x017F;elten eine voll&#x017F;ta&#x0364;ndige Idee von<lb/>
Eigenthu&#x0364;mlichkeit: und die Be&#x017F;chreibungen! &#x2014; Wer<lb/>
weiß es nicht, daß jeder Le&#x017F;er &#x017F;ich dabei &#x017F;ein be&#x017F;onde-<lb/>
res Bild denkt? daß nur ko&#x0364;rperliche Fehler als auf-<lb/>
fallende Unter&#x017F;cheidungszeichen &#x017F;ich der Seele eindru&#x0364;-<lb/>
cken? Daß aber der Ku&#x0364;n&#x017F;tler &#x017F;ich an die&#x017F;e genau<lb/>
halten &#x017F;olle, wird wohl niemand verlangen. We-<lb/>
nig&#x017F;tens zweifle ich, daß derjenige, der bei der Dar-<lb/>
&#x017F;tellung der beru&#x0364;hmte&#x017F;ten Philo&#x017F;ophen des Alterthums<lb/>
die Nachrichten des Sidonius Apollinaris genau be-<lb/>
folgen wollte, &#x017F;ich um un&#x017F;er Vergnu&#x0364;gen &#x017F;ehr verdient<lb/>
machen wu&#x0364;rde. <note place="foot" n="5)"><hi rendition="#aq">Per gymna&#x017F;ia pinguntur Zeu&#x017F;ippus cervice cur-<lb/>
va, Aratus panda, Zenon fronte contracta,<lb/>
Epicurus cute di&#x017F;tenta, Diogenes barba co-<lb/>
mante, Socrates coma candente, Ari&#x017F;toteles<lb/>
brachio ex&#x017F;erto, Xenocrates crure collecto,<lb/>
Democritus ri&#x017F;u labris apertis, Chry&#x017F;ippus<lb/>
propter numerorum indicia con&#x017F;trictis, Eucli-<lb/>
des propter men&#x017F;urarum &#x017F;patia laxatis, Clean-<lb/>
thes propter utrumque corro&#x017F;is.</hi></note></p><lb/>
        <p>La&#x017F;&#x017F;en Sie uns nie verge&#x017F;&#x017F;en, daß der Zweck<lb/>
der Kun&#x017F;t nicht Ueberlieferung der Lebensum&#x017F;ta&#x0364;nde<lb/>
beru&#x0364;hmter Ma&#x0364;nner, &#x017F;ondern Dar&#x017F;tellung einer in-<lb/>
tere&#x017F;&#x017F;anten Begebenheit aus ihrem Leben i&#x017F;t; daß<lb/>
ich &#x017F;ie nur einmal &#x017F;ehe; daß die&#x017F;es eine Mal, die&#x017F;er<lb/>
eine Blick, mir daher die voll&#x017F;ta&#x0364;ndig&#x017F;te Auflo&#x0364;&#x017F;ung<lb/>
u&#x0364;ber ihre Einwu&#x0364;rkung auf die Begebenheit geben<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e; und daß es mithin mehr darauf ankomme,<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">was</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[237/0251] Pallaſt Boccapaduli. ſitzen, ſchon ehemals mehr nach den Geſetzen der Wahrſcheinlichkeit als der Treue gebildet wurden. Muͤnzen liefern nur ſelten eine vollſtaͤndige Idee von Eigenthuͤmlichkeit: und die Beſchreibungen! — Wer weiß es nicht, daß jeder Leſer ſich dabei ſein beſonde- res Bild denkt? daß nur koͤrperliche Fehler als auf- fallende Unterſcheidungszeichen ſich der Seele eindruͤ- cken? Daß aber der Kuͤnſtler ſich an dieſe genau halten ſolle, wird wohl niemand verlangen. We- nigſtens zweifle ich, daß derjenige, der bei der Dar- ſtellung der beruͤhmteſten Philoſophen des Alterthums die Nachrichten des Sidonius Apollinaris genau be- folgen wollte, ſich um unſer Vergnuͤgen ſehr verdient machen wuͤrde. 5) Laſſen Sie uns nie vergeſſen, daß der Zweck der Kunſt nicht Ueberlieferung der Lebensumſtaͤnde beruͤhmter Maͤnner, ſondern Darſtellung einer in- tereſſanten Begebenheit aus ihrem Leben iſt; daß ich ſie nur einmal ſehe; daß dieſes eine Mal, dieſer eine Blick, mir daher die vollſtaͤndigſte Aufloͤſung uͤber ihre Einwuͤrkung auf die Begebenheit geben muͤſſe; und daß es mithin mehr darauf ankomme, was 5) Per gymnaſia pinguntur Zeuſippus cervice cur- va, Aratus panda, Zenon fronte contracta, Epicurus cute diſtenta, Diogenes barba co- mante, Socrates coma candente, Ariſtoteles brachio exſerto, Xenocrates crure collecto, Democritus riſu labris apertis, Chryſippus propter numerorum indicia conſtrictis, Eucli- des propter menſurarum ſpatia laxatis, Clean- thes propter utrumque corroſis.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787/251
Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787/251>, abgerufen am 01.09.2024.