Auch das Schickliche ist mit dem Ueblichen nicht einerlei. Das Schickliche ist das Ideal der dichte- rischen Wahrscheinlichkeit: es ist die Auswahl unter demjenigen, was nach dem Gange der Affekten sich an den theilnehmenden Personen bei einer Begeben- heit äußern kann. Es ist weder mechanisch noch dichterisch unwahrscheinlich, daß ein Aussätziger sich krazt, während daß Christus seinen Mitkranken hei- let: es ist auch nicht wider das Uebliche. Allein es paßt, es schickt sich nicht in den Eindruck, den die Darstellung einer heiligen Handlung auf mich machen soll, es ist wider meine Begriffe von Anstand, wider sittliche Wahrscheinlichkeit, mit einem Worte: wider das Schickliche.
Daß diese Betrachtungen den Liebhaber billig machen möchten gegen Meisterstücke älterer Meister, die ein ganz anderes Uebliche hatten als wir! Die wenn sie unsre Forderungen in Ansehung des Zufälli- gen der Wahrheit oft unbefriedigt lassen, denjenigen, die wir an die nothwendigen Bestandtheile derselben zu machen berechtiget sind, ein desto größeres Ge- nüge leisten.
Ich will damit aber keinesweges den jungenDie Gründe zur Nachsicht für die älte- ren Künstler können den gegenwärti- gen nicht zu Gute kom- men. Künstler zu einer Nachlässigkeit in diesem Stücke auf- fordern. Nein! er erhöhe mein Vergnügen, indem er mir Gelegenheit giebt, viel mehr zu denken, als ich sehe. Allein davor warne ich ihn: kein Stolz auf diesen Nebenvorzug, keine übertriebene Sorge für die Andeutung der historischen Wahrheit.
Ehemals erforderte die Kenntniß des Ueblichen wenigstens einen gewissen Aufwand von Seelenkräf-
ten,
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Pallaſt Boccapaduli.
Auch das Schickliche iſt mit dem Ueblichen nicht einerlei. Das Schickliche iſt das Ideal der dichte- riſchen Wahrſcheinlichkeit: es iſt die Auswahl unter demjenigen, was nach dem Gange der Affekten ſich an den theilnehmenden Perſonen bei einer Begeben- heit aͤußern kann. Es iſt weder mechaniſch noch dichteriſch unwahrſcheinlich, daß ein Auſſaͤtziger ſich krazt, waͤhrend daß Chriſtus ſeinen Mitkranken hei- let: es iſt auch nicht wider das Uebliche. Allein es paßt, es ſchickt ſich nicht in den Eindruck, den die Darſtellung einer heiligen Handlung auf mich machen ſoll, es iſt wider meine Begriffe von Anſtand, wider ſittliche Wahrſcheinlichkeit, mit einem Worte: wider das Schickliche.
Daß dieſe Betrachtungen den Liebhaber billig machen moͤchten gegen Meiſterſtuͤcke aͤlterer Meiſter, die ein ganz anderes Uebliche hatten als wir! Die wenn ſie unſre Forderungen in Anſehung des Zufaͤlli- gen der Wahrheit oft unbefriedigt laſſen, denjenigen, die wir an die nothwendigen Beſtandtheile derſelben zu machen berechtiget ſind, ein deſto groͤßeres Ge- nuͤge leiſten.
Ich will damit aber keinesweges den jungenDie Gruͤnde zur Nachſicht fuͤr die aͤlte- ren Kuͤnſtler koͤnnen den gegenwaͤrti- gen nicht zu Gute kom- men. Kuͤnſtler zu einer Nachlaͤſſigkeit in dieſem Stuͤcke auf- fordern. Nein! er erhoͤhe mein Vergnuͤgen, indem er mir Gelegenheit giebt, viel mehr zu denken, als ich ſehe. Allein davor warne ich ihn: kein Stolz auf dieſen Nebenvorzug, keine uͤbertriebene Sorge fuͤr die Andeutung der hiſtoriſchen Wahrheit.
Ehemals erforderte die Kenntniß des Ueblichen wenigſtens einen gewiſſen Aufwand von Seelenkraͤf-
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Pallaſt Boccapaduli.
Auch das Schickliche iſt mit dem Ueblichen nicht
einerlei. Das Schickliche iſt das Ideal der dichte-
riſchen Wahrſcheinlichkeit: es iſt die Auswahl unter
demjenigen, was nach dem Gange der Affekten ſich
an den theilnehmenden Perſonen bei einer Begeben-
heit aͤußern kann. Es iſt weder mechaniſch noch
dichteriſch unwahrſcheinlich, daß ein Auſſaͤtziger ſich
krazt, waͤhrend daß Chriſtus ſeinen Mitkranken hei-
let: es iſt auch nicht wider das Uebliche. Allein es
paßt, es ſchickt ſich nicht in den Eindruck, den die
Darſtellung einer heiligen Handlung auf mich machen
ſoll, es iſt wider meine Begriffe von Anſtand, wider
ſittliche Wahrſcheinlichkeit, mit einem Worte: wider
das Schickliche.
Daß dieſe Betrachtungen den Liebhaber billig
machen moͤchten gegen Meiſterſtuͤcke aͤlterer Meiſter,
die ein ganz anderes Uebliche hatten als wir! Die
wenn ſie unſre Forderungen in Anſehung des Zufaͤlli-
gen der Wahrheit oft unbefriedigt laſſen, denjenigen,
die wir an die nothwendigen Beſtandtheile derſelben
zu machen berechtiget ſind, ein deſto groͤßeres Ge-
nuͤge leiſten.
Ich will damit aber keinesweges den jungen
Kuͤnſtler zu einer Nachlaͤſſigkeit in dieſem Stuͤcke auf-
fordern. Nein! er erhoͤhe mein Vergnuͤgen, indem
er mir Gelegenheit giebt, viel mehr zu denken, als
ich ſehe. Allein davor warne ich ihn: kein Stolz
auf dieſen Nebenvorzug, keine uͤbertriebene Sorge
fuͤr die Andeutung der hiſtoriſchen Wahrheit.
Die Gruͤnde
zur Nachſicht
fuͤr die aͤlte-
ren Kuͤnſtler
koͤnnen den
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 2. Leipzig, 1787, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei02_1787/245>, abgerufen am 16.02.2025.
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