Schlangen von ungewöhnlicher Größe, den Vater mit seinen Kindern umschlingen, und sie mit schmerz- haften Bissen anfallen. Dies ist der Zeitpunkt, den der Künstler aus der Geschichte zur Darstellung ge- wählt hat.
Er konnte nicht glücklicher wählen. Der Vater war mit den Söhnen bei einer Handlung beschäfftigt: Sie opferten zusammen: Die gemeinschaftliche Ge- fahr, die Banden des Bluts, der Schutz, den das schwächere Alter von dem stärkeren erwartet, verei- nigte bei einem gleichzeitigen Anfall alle drei Figuren zu einer, und eben dadurch verstärkten, Vorstellung des Leidens: aber die verschiedenen Grade dieses Lei- dens, die Verschiedenheit des Alters und der Empfin- dungen die davon abhängen, boten zu gleicher Zeit dem Genie des Künstlers die größte Abwechselung in Formen, Stellungen und Ausdruck dar.
Der Vater, der jetzt den ersten Biß der Schlange fühlt, dessen Beine bis jetzt allein umschlungen sind, besitzt noch den größten Theil seiner Kräfte. Inzwi- schen unfähig im Stehen das Gleichgewicht zu behal- ten, stämmt er sich sitzend gegen den Würfel der Ara, und sucht nun mit ausgespreiteten Armen die Schlan- gen von sich abzuhalten, mit von einander gerissenen Beinen sich aus ihren Windungen loszuarbeiten. Aber zu gleicher Zeit fühlt er den Biß des feindlichen Thiers, sein Körper beugt sich rückwärts ab, sein Auge kehrt sich zum Himmel, und halb flehend, halb anklagend, ruft er mit gepreßter Stimme um Ret- tung und Gnade. 6)
Der
6) Wir haben eine vortreffliche Beschreibung des Lao-
coon
D 5
Der Vaticaniſche Pallaſt.
Schlangen von ungewoͤhnlicher Groͤße, den Vater mit ſeinen Kindern umſchlingen, und ſie mit ſchmerz- haften Biſſen anfallen. Dies iſt der Zeitpunkt, den der Kuͤnſtler aus der Geſchichte zur Darſtellung ge- waͤhlt hat.
Er konnte nicht gluͤcklicher waͤhlen. Der Vater war mit den Soͤhnen bei einer Handlung beſchaͤfftigt: Sie opferten zuſammen: Die gemeinſchaftliche Ge- fahr, die Banden des Bluts, der Schutz, den das ſchwaͤchere Alter von dem ſtaͤrkeren erwartet, verei- nigte bei einem gleichzeitigen Anfall alle drei Figuren zu einer, und eben dadurch verſtaͤrkten, Vorſtellung des Leidens: aber die verſchiedenen Grade dieſes Lei- dens, die Verſchiedenheit des Alters und der Empfin- dungen die davon abhaͤngen, boten zu gleicher Zeit dem Genie des Kuͤnſtlers die groͤßte Abwechſelung in Formen, Stellungen und Ausdruck dar.
Der Vater, der jetzt den erſten Biß der Schlange fuͤhlt, deſſen Beine bis jetzt allein umſchlungen ſind, beſitzt noch den groͤßten Theil ſeiner Kraͤfte. Inzwi- ſchen unfaͤhig im Stehen das Gleichgewicht zu behal- ten, ſtaͤmmt er ſich ſitzend gegen den Wuͤrfel der Ara, und ſucht nun mit ausgeſpreiteten Armen die Schlan- gen von ſich abzuhalten, mit von einander geriſſenen Beinen ſich aus ihren Windungen loszuarbeiten. Aber zu gleicher Zeit fuͤhlt er den Biß des feindlichen Thiers, ſein Koͤrper beugt ſich ruͤckwaͤrts ab, ſein Auge kehrt ſich zum Himmel, und halb flehend, halb anklagend, ruft er mit gepreßter Stimme um Ret- tung und Gnade. 6)
Der
6) Wir haben eine vortreffliche Beſchreibung des Lao-
coon
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Der Vaticaniſche Pallaſt.
Schlangen von ungewoͤhnlicher Groͤße, den Vater
mit ſeinen Kindern umſchlingen, und ſie mit ſchmerz-
haften Biſſen anfallen. Dies iſt der Zeitpunkt, den
der Kuͤnſtler aus der Geſchichte zur Darſtellung ge-
waͤhlt hat.
Er konnte nicht gluͤcklicher waͤhlen. Der Vater
war mit den Soͤhnen bei einer Handlung beſchaͤfftigt:
Sie opferten zuſammen: Die gemeinſchaftliche Ge-
fahr, die Banden des Bluts, der Schutz, den das
ſchwaͤchere Alter von dem ſtaͤrkeren erwartet, verei-
nigte bei einem gleichzeitigen Anfall alle drei Figuren
zu einer, und eben dadurch verſtaͤrkten, Vorſtellung
des Leidens: aber die verſchiedenen Grade dieſes Lei-
dens, die Verſchiedenheit des Alters und der Empfin-
dungen die davon abhaͤngen, boten zu gleicher Zeit
dem Genie des Kuͤnſtlers die groͤßte Abwechſelung in
Formen, Stellungen und Ausdruck dar.
Der Vater, der jetzt den erſten Biß der Schlange
fuͤhlt, deſſen Beine bis jetzt allein umſchlungen ſind,
beſitzt noch den groͤßten Theil ſeiner Kraͤfte. Inzwi-
ſchen unfaͤhig im Stehen das Gleichgewicht zu behal-
ten, ſtaͤmmt er ſich ſitzend gegen den Wuͤrfel der Ara,
und ſucht nun mit ausgeſpreiteten Armen die Schlan-
gen von ſich abzuhalten, mit von einander geriſſenen
Beinen ſich aus ihren Windungen loszuarbeiten.
Aber zu gleicher Zeit fuͤhlt er den Biß des feindlichen
Thiers, ſein Koͤrper beugt ſich ruͤckwaͤrts ab, ſein
Auge kehrt ſich zum Himmel, und halb flehend, halb
anklagend, ruft er mit gepreßter Stimme um Ret-
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6) Wir haben eine vortreffliche Beſchreibung des Lao-
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787/79>, abgerufen am 16.02.2025.
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