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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787.

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Das Capitol.
Wir verstehen sie, ohne überzeugt zu werden. Sein
ungebändigter Witz wirft die Figuren zusammen, die
den Platz, nicht aber die Vorstellung ausfüllen, die
wir uns von der Begebenheit machen, an der sie Theil
nehmen. Seine Formen sind ohne Wahl: Seine
Köpfe haben Leben, Charakter, aber selten passenden
Ausdruck, und seine Stellungen sind übertrieben.
Seine Zeichnung ist oft incorrekt, nie aber bestimmt
oder fein: Der Faltenschlag im kleinlichen Stile,
ohne Zusammenhang, ohne Deutlichkeit. Sein Co-
lorit hat einen Schein von Wahrheit, fällt aber ge-
meiniglich ins Gelbe und ins Schwarze; oft ist es
schmutzig. Sein Helldunkles ist conventionell, aber
es thut Effect. Er liebte die Verkürzungen, wie
man sie bei einem hoch angenommenen Horizont an-
trifft. Er stellt den Zuschauer zu nahe an seine Fi-
guren; auf dem Vorgrunde gleichen sie Riesen, auf
dem Hintergrunde Zwergen, und hier findet man
gemeiniglich die interessantesten. Fertigkeit in Be-
handlung des Pinsels ist das Hauptverdienst dieses
Meisters.

Mit einem Worte: Tintoret war ein sehr erfin-
drischer Handwerker, dessen broßirte Skizzen von
weitem frappiren: Man nähert sich und der Zauber
verschwindet. Inzwischen ist er sich selbst sehr un-
gleich in seinen Werken, von denen die größeren bei
weitem die bessern sind.

Paolo Caliari, von seiner Vaterstadt VeronesePaolo Vero-
nese.

genannt, lebte von 1532 bis 1588. Er ist in der
Kunst das, was die Sophisten in der Philosophie wa-
ren. Er hatte die Lieblingsschwächen des größern Hau-

fens

Das Capitol.
Wir verſtehen ſie, ohne uͤberzeugt zu werden. Sein
ungebaͤndigter Witz wirft die Figuren zuſammen, die
den Platz, nicht aber die Vorſtellung ausfuͤllen, die
wir uns von der Begebenheit machen, an der ſie Theil
nehmen. Seine Formen ſind ohne Wahl: Seine
Koͤpfe haben Leben, Charakter, aber ſelten paſſenden
Ausdruck, und ſeine Stellungen ſind uͤbertrieben.
Seine Zeichnung iſt oft incorrekt, nie aber beſtimmt
oder fein: Der Faltenſchlag im kleinlichen Stile,
ohne Zuſammenhang, ohne Deutlichkeit. Sein Co-
lorit hat einen Schein von Wahrheit, faͤllt aber ge-
meiniglich ins Gelbe und ins Schwarze; oft iſt es
ſchmutzig. Sein Helldunkles iſt conventionell, aber
es thut Effect. Er liebte die Verkuͤrzungen, wie
man ſie bei einem hoch angenommenen Horizont an-
trifft. Er ſtellt den Zuſchauer zu nahe an ſeine Fi-
guren; auf dem Vorgrunde gleichen ſie Rieſen, auf
dem Hintergrunde Zwergen, und hier findet man
gemeiniglich die intereſſanteſten. Fertigkeit in Be-
handlung des Pinſels iſt das Hauptverdienſt dieſes
Meiſters.

Mit einem Worte: Tintoret war ein ſehr erfin-
driſcher Handwerker, deſſen broßirte Skizzen von
weitem frappiren: Man naͤhert ſich und der Zauber
verſchwindet. Inzwiſchen iſt er ſich ſelbſt ſehr un-
gleich in ſeinen Werken, von denen die groͤßeren bei
weitem die beſſern ſind.

Paolo Caliari, von ſeiner Vaterſtadt VeroneſePaolo Vero-
neſe.

genannt, lebte von 1532 bis 1588. Er iſt in der
Kunſt das, was die Sophiſten in der Philoſophie wa-
ren. Er hatte die Lieblingsſchwaͤchen des groͤßern Hau-

fens
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[255/0277] Das Capitol. Wir verſtehen ſie, ohne uͤberzeugt zu werden. Sein ungebaͤndigter Witz wirft die Figuren zuſammen, die den Platz, nicht aber die Vorſtellung ausfuͤllen, die wir uns von der Begebenheit machen, an der ſie Theil nehmen. Seine Formen ſind ohne Wahl: Seine Koͤpfe haben Leben, Charakter, aber ſelten paſſenden Ausdruck, und ſeine Stellungen ſind uͤbertrieben. Seine Zeichnung iſt oft incorrekt, nie aber beſtimmt oder fein: Der Faltenſchlag im kleinlichen Stile, ohne Zuſammenhang, ohne Deutlichkeit. Sein Co- lorit hat einen Schein von Wahrheit, faͤllt aber ge- meiniglich ins Gelbe und ins Schwarze; oft iſt es ſchmutzig. Sein Helldunkles iſt conventionell, aber es thut Effect. Er liebte die Verkuͤrzungen, wie man ſie bei einem hoch angenommenen Horizont an- trifft. Er ſtellt den Zuſchauer zu nahe an ſeine Fi- guren; auf dem Vorgrunde gleichen ſie Rieſen, auf dem Hintergrunde Zwergen, und hier findet man gemeiniglich die intereſſanteſten. Fertigkeit in Be- handlung des Pinſels iſt das Hauptverdienſt dieſes Meiſters. Mit einem Worte: Tintoret war ein ſehr erfin- driſcher Handwerker, deſſen broßirte Skizzen von weitem frappiren: Man naͤhert ſich und der Zauber verſchwindet. Inzwiſchen iſt er ſich ſelbſt ſehr un- gleich in ſeinen Werken, von denen die groͤßeren bei weitem die beſſern ſind. Paolo Caliari, von ſeiner Vaterſtadt Veroneſe genannt, lebte von 1532 bis 1588. Er iſt in der Kunſt das, was die Sophiſten in der Philoſophie wa- ren. Er hatte die Lieblingsſchwaͤchen des groͤßern Hau- fens Paolo Vero- neſe.

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Zitationshilfe: Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787/277>, abgerufen am 25.11.2024.