in Verbindung mit den stärkern einem Gegenstand aus- ser der Deutlichkeit auch Wahrheit geben, so war das Bild verschwunden, und was stehen blieb, war nur das Gerippe eines Bildes, das sein sinnreicher Ver- stand willkührlich auszufüllen suchte.
Michael Angelo hatte um die Kunst für die Epoche, worin er lebte, große Verdienste. Er war der erste, der große Flächen mit Figuren auszufüllen wagte, die mit dem Platze, für den sie bestimmt wa- ren, im Verhältnisse standen. Er lehrte zuerst das Ueberflüßige von dem Nothwendigen unterscheiden, und das Auge durch große Massen in der Zeichnung anzuziehen. Er brachte die Lehre von Verhältnissen auf richtige Grundsätze, und lehrte den Zusammen- hang des Knochen- und Muskelnbaues in ganzen Fi- guren.
Kurz! Er war der Mann von Genie, der die Kunst aus ihrer kleinlichen Schüchternheit empor hob, und selbst durch seine Fehler einen gegründeten An- spruch auf unsere Dankbarkeit hat, weil sie einen Ra- phael in der Gleise der Wahrheit erhielten.
Für den Künstler ist in den Werken des M. An- gelo eine reichere Erndte als für den Liebhaber. Die- sen muß man vielleicht mehr auf die Fehler unsers Künstlers als auf seine Vorzüge aufmerksam machen, damit das Anziehende, was jene begleitet, ihn nicht verführe, sie mit diesen zu verwechseln.
Die Gegenstände, die den Pinsel des M. An- gelo beschäfstigten, waren selten angenehm, und wenn sie es waren, so wurden sie unangenehm durch die Art, wie er sie behandelte.
Sei-
Erster Theil. M
Der Vaticaniſche Pallaſt.
in Verbindung mit den ſtaͤrkern einem Gegenſtand auſ- ſer der Deutlichkeit auch Wahrheit geben, ſo war das Bild verſchwunden, und was ſtehen blieb, war nur das Gerippe eines Bildes, das ſein ſinnreicher Ver- ſtand willkuͤhrlich auszufuͤllen ſuchte.
Michael Angelo hatte um die Kunſt fuͤr die Epoche, worin er lebte, große Verdienſte. Er war der erſte, der große Flaͤchen mit Figuren auszufuͤllen wagte, die mit dem Platze, fuͤr den ſie beſtimmt wa- ren, im Verhaͤltniſſe ſtanden. Er lehrte zuerſt das Ueberfluͤßige von dem Nothwendigen unterſcheiden, und das Auge durch große Maſſen in der Zeichnung anzuziehen. Er brachte die Lehre von Verhaͤltniſſen auf richtige Grundſaͤtze, und lehrte den Zuſammen- hang des Knochen- und Muſkelnbaues in ganzen Fi- guren.
Kurz! Er war der Mann von Genie, der die Kunſt aus ihrer kleinlichen Schuͤchternheit empor hob, und ſelbſt durch ſeine Fehler einen gegruͤndeten An- ſpruch auf unſere Dankbarkeit hat, weil ſie einen Ra- phael in der Gleiſe der Wahrheit erhielten.
Fuͤr den Kuͤnſtler iſt in den Werken des M. An- gelo eine reichere Erndte als fuͤr den Liebhaber. Die- ſen muß man vielleicht mehr auf die Fehler unſers Kuͤnſtlers als auf ſeine Vorzuͤge aufmerkſam machen, damit das Anziehende, was jene begleitet, ihn nicht verfuͤhre, ſie mit dieſen zu verwechſeln.
Die Gegenſtaͤnde, die den Pinſel des M. An- gelo beſchaͤfſtigten, waren ſelten angenehm, und wenn ſie es waren, ſo wurden ſie unangenehm durch die Art, wie er ſie behandelte.
Sei-
Erſter Theil. M
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Der Vaticaniſche Pallaſt.
in Verbindung mit den ſtaͤrkern einem Gegenſtand auſ-
ſer der Deutlichkeit auch Wahrheit geben, ſo war das
Bild verſchwunden, und was ſtehen blieb, war nur
das Gerippe eines Bildes, das ſein ſinnreicher Ver-
ſtand willkuͤhrlich auszufuͤllen ſuchte.
Michael Angelo hatte um die Kunſt fuͤr die
Epoche, worin er lebte, große Verdienſte. Er war
der erſte, der große Flaͤchen mit Figuren auszufuͤllen
wagte, die mit dem Platze, fuͤr den ſie beſtimmt wa-
ren, im Verhaͤltniſſe ſtanden. Er lehrte zuerſt das
Ueberfluͤßige von dem Nothwendigen unterſcheiden,
und das Auge durch große Maſſen in der Zeichnung
anzuziehen. Er brachte die Lehre von Verhaͤltniſſen
auf richtige Grundſaͤtze, und lehrte den Zuſammen-
hang des Knochen- und Muſkelnbaues in ganzen Fi-
guren.
Kurz! Er war der Mann von Genie, der die
Kunſt aus ihrer kleinlichen Schuͤchternheit empor hob,
und ſelbſt durch ſeine Fehler einen gegruͤndeten An-
ſpruch auf unſere Dankbarkeit hat, weil ſie einen Ra-
phael in der Gleiſe der Wahrheit erhielten.
Fuͤr den Kuͤnſtler iſt in den Werken des M. An-
gelo eine reichere Erndte als fuͤr den Liebhaber. Die-
ſen muß man vielleicht mehr auf die Fehler unſers
Kuͤnſtlers als auf ſeine Vorzuͤge aufmerkſam machen,
damit das Anziehende, was jene begleitet, ihn nicht
verfuͤhre, ſie mit dieſen zu verwechſeln.
Die Gegenſtaͤnde, die den Pinſel des M. An-
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wenn ſie es waren, ſo wurden ſie unangenehm durch
die Art, wie er ſie behandelte.
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Ramdohr, Friedrich Wilhelm Basilius von: Über Mahlerei und Bildhauerarbeit in Rom für Liebhaber des Schönen in der Kunst. T. 1. Leipzig, 1787, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_mahlerei01_1787/199>, abgerufen am 16.02.2025.
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